Exklusiv zur Ukraine-Krise: Ehemaliger Generalinspekteur der Bundeswehr General Harald Kujat im ZUERST!-Interview

9. Februar 2022
Exklusiv zur Ukraine-Krise: Ehemaliger Generalinspekteur der Bundeswehr General Harald Kujat im ZUERST!-Interview
International
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Foto: Symbolbild

„Was mir fehlt, ist ein mutiger Schritt“

Der General der Luftwaffe a.D. und ehemalige Generalinspekteur der Bundeswehr Harald Kujat im ZUERST!-Gespräch über die konfliktgeladene Situation in der Ukraine, geopolitische Interessen und die Handlungsoptionen Deutschlands angesichts dieser diplomatischen Krise.

Herr General, der Konflikt zwischen der NATO und Rußland hat sich in den vergangenen Wochen verschärft. Dabei geht es vor allem um die angespannte Lage an der russisch-ukrainischen Grenze. Nicht nur NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg sprach von der „Gefahr eines Krieges“. Weshalb gestaltet sich der Dialog zwischen beiden Lagern so schwierig?

Kujat: Beiden Seiten ist an einem Interessenausgleich gelegen, aber beide Seiten pokern auch, und keiner will den ersten signifikanten Schritt zu einer Deeskalation machen. Dabei wäre das nicht ein Zeichen der Schwäche, sondern der Stärke. Immerhin sollen die Gespräche weitergehen. Was mir fehlt, ist ein mutiger Schritt des NATO­-Generalsekretärs nach vorn. Die verschiedenen Einzelgespräche mit den Präsidenten Biden und Putin sind ein sichtbares Zeichen des Bemühens um eine Verständigung. Aber sie können sachorientierte Verhandlungen in einem dafür geeigneten Forum nicht ersetzen. Fortschritte können nur erzielt werden, wenn die Vereinigten Staaten und die Europäer gemeinsam mit Rußland verhandeln. Deshalb hätte der NATO­-Generalsekretär längst weitere Sitzungen des NATO-Rußland-­Rats anberaumen müssen, und zwar zunächst auf der militärischen und anschließend auf der politischen Ebene der Außen­ und Verteidigungsminister. Übrigens: Jeder NATO­-Mitgliedstaat kann diese Treffen fordern.

Der Sprecher des US-Verteidigungsministeriums, John F. Kirby, behauptete kürzlich, das aktuelle Vorgehen Rußlands folge „demselben Muster“ wie während der Krimkrise 2014. Würden Sie diese Aussage unterschreiben?

Kujat: Das ist ganz offensichtlich nicht der Fall. Wenn es Rußlands Absicht wäre, die abtrünnigen Regionen Luhansk und Donezk zu annektieren, wäre dies bereits geschehen. Alles deutet darauf hin, daß Rußland die militärischen Kräfte in Bereitstellungsräumen zusammengezogen hat, um die Vereinigten Staaten und die NATO an den Verhandlungstisch zu zwingen. Man muß zwischen der Fähigkeit und der Absicht zu einem Angriff unterscheiden. Bisher gibt es keinen Beleg dafür, daß Rußland beabsichtigt, die Ukraine anzugreifen. Inzwischen bestätigen auch die Vereinigten Staaten, daß sie über keine entsprechenden Informationen verfügen.

Die NATO scheint aktuell eher auf Abschreckung als auf Verständigung zu setzen. Der russische Unterhändler Alexander Gruschko warf dem Bündnis sogar vor, an seinen Verhaltensmustern aus der Zeit des Kalten Krieges festzuhalten. Ist solch eine Politik angesichts der aktuellen geopolitischen Lage aus Ihrer Sicht sinnvoll?

Kujat: Das hängt davon ab, was man unter Abschreckung versteht und ob die beabsichtigten Maßnahmen sinnvoll sind. Einerseits sollen Waffenlieferungen an die Ukraine Rußland von einem Angriff abschrecken. Andererseits soll durch die Androhung von politischen und wirtschaftlichen Vergeltungsmaß­nahmen erreicht werden, daß die Kosten für Rußland so groß wären, daß es von einem Angriff absieht. Falls Ruß­land doch den Angriff auf die Ukraine wagen sollte, müßte es die dann fällige Strafe tragen. Die militärische Abschreckung vor einem Angriff hätte allerdings nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn die Ukraine erkennbar in der Lage wäre, das Land erfolgreich gegen einen Angriff Rußlands zu verteidigen, oder zumindest das Risiko eines Scheiterns für Rußland größer wäre als die Aussicht auf einen Erfolg. Soweit es um Wirtschaftssanktionen geht, gebe ich zu bedenken, daß dies ein zweischneidiges Schwert ist. Man muß also immer auch die Möglichkeiten der anderen Seite zu Gegenmaßnahmen bedenken. Sollte beispielsweise Nord Stream 2 stillgelegt werden, könnte Rußland die Lieferung von Gas durch die beiden durch die Ukraine verlaufenden Pipelines einstellen. Dann wären nicht nur wir von der Lieferung abgeschnitten, sondern auch die Ukraine. Auch wenn das Ausbleiben von Devisen für Rußland ein Problem wäre, für Deutschland wäre das Problem um ein Vielfaches größer. Jedenfalls, damit Sanktionen auf dem für Rußland zweifellos wichtigen Energiesektor überhaupt spürbar wären, müß­ten sich alle Verbündeten daran beteiligen; also auch die Vereinigten Staaten, denn Rußland ist immerhin der drittgrößte Rohöllieferant. Es ist deshalb wesentlich vernünftiger, einen Krieg durch Verhandlungen zu verhindern, als auf militärische und wirtschaftliche Abschreckung zu setzen, die vorhersehbar nicht wirken, oder einen Aggressor für seine Aggression zu bestrafen.

Bereits 1967 wurde innerhalb der NATO mit dem Harmel-Bericht für eine Doppelstrategie aus militärischer Sicherheit und diplomatischer Entspannungspolitik als Gegenstück zur damals vorherrschenden Nuklearstrategie der „Massiven Vergeltung“ geworben. Läßt sich dieser Kompromiß aus Stärke und defensiver Kommunikation heute reaktivieren?

Kujat: Ganz sicher. Die NATO muß in dieser Situation den Schutz und die Sicherheit insbesondere der baltischen Staaten und Polens durch die kollektive Verteidigungsfähigkeit sicherstellen. Die Ukraine gehört nicht der NATO an, aber ihre eventuelle Mitgliedschaft und die Dislozierung amerikanischer Truppen und moderner Waffensysteme sind aus russischer Sicht geeignet, das strategische Gleichgewicht zum Nachteil Ruß­lands zu verändern. Rußland strebt als Ergebnis der Verhandlungen an, beides zu verhindern, und nutzt die Ukraine-Krise zugleich als Katalysator für Vereinbarungen zu einer neuen europäischen Sicherheitsarchitektur, die russischen Sicherheitsinteressen entspricht.

[…]

Aus russischer Sicht bildet ein möglicher NATO-Beitritt der Ukraine eine rote Linie. Für wie wahrscheinlich halten Sie diesen Schritt?

Kujat: Die NATO ist eine Allianz, die auf dem Prinzip gemeinsamer kollektiver Sicherheit beruht. Deshalb muß ein potentielles Mitglied eine Reihe von Kriterien erfüllen. Die vier wichtigsten Voraussetzungen für eine NATO­Mitgliedschaft stehen im NATO­-Vertrag: Erstens hat kein Land Anspruch auf eine Mitgliedschaft, sondern es muß von allen Mitgliedstaaten im Konsens eingeladen werden. Nur wenn dies der Fall ist, kann das Land – wie immer behauptet wird – von seinem Recht auf die freie Wahl eines Bündnisses Gebrauch machen. Für eine Einladung an die Ukraine gab es 2008 keine Zustimmung aller Mitgliedstaaten. Der Versuch des US­-Präsidenten George W. Bush 2008, eine Einladung der Ukraine durchzusetzen, ist gescheitert. Daran hat sich bis heute nichts geändert, und das wird auch für die vorhersehbare Zukunft so sein. Zweitens muß das Land völlig mit den Grundlagen und Normen der Allianz übereinstimmen. Das ist nicht der Fall. Ob und wann die Ukraine diese Forderung erfüllt, ist nicht absehbar. Drittens muß ein neues NATO-­Mitglied durch seinen Beitritt einen positiven Beitrag zur Sicherheit aller Mitgliedstaaten leisten. Das Gegenteil wäre jedoch der Fall. Mit dem Beitritt der Ukraine würde die NATO einen potentiellen Konflikt mit Rußland importieren. Viertens muß die NATO in der Lage
sein, die Sicherheit des neuen Mitglieds durch die kollektive Verteidigung zu gewährleisten. Auch in der gegenwärtigen Krise hat US-­Präsident Biden die
Dislozierung amerikanischer Truppen in der Ukraine zur Verteidigung gegen einen Angriff ausgeschlossen, denn die NATO ist grundsätzlich nicht in der Lage, die Ukraine im Falle eines Angriffs mit konventionellen Kräften zu verteidigen; und niemand, auch nicht die Vereinigten Staaten, würde einen Nuklearkrieg riskieren.

Kann es, bezogen auf die Ukraine, überhaupt eine diplomatische Lösung geben, mit der alle Seiten zufrieden wären, oder ist das Ringen um die jeweiligen Einflußbereiche ein politisches Nullsummenspiel?

Kujat: Um die Ukraine-­Krise zu lösen, muß die innere Verfaßtheit der Ukraine entsprechend dem Minsk-­II­-Abkommen – möglicherweise im Normandie-Format – geregelt werden. Das bedeutet, daß die Ukraine ihr Versprechen einlöst, bis Ende 2015 eine Verfassungsreform durchzuführen, die den überwiegend russischsprachigen Regionen größere Autonomie gewährt. Im Gegenzug müßte Rußland die Unterstützung der Separatisten einstellen. Parallel dazu könnte eine Lösung gefunden werden, welchen Platz die Ukraine in einer künftigen europäischen Sicherheitsarchitektur einnimmt. Dazu müß­te die NATO zunächst erklären, daß sie nicht die Absicht hat, die Ukraine als Mitglied einzuladen. Das gilt entsprechend auch für Georgien. Für die Zukunft der Ukraine stimme ich mit dem überein, was Ex-US­-Außenminister Henry Kissinger bereits 2014 vorgeschlagen hat: „Die Ukraine sollte nicht der NATO beitreten. Wenn die Ukraine überleben und gedeihen soll, darf sie nicht der Vorposten einer Seite gegen die andere sein – sie sollte als Brücke fungieren und eine mit Finnland vergleichbare Haltung einnehmen.“ Das bedeutet eine konsolidierte Neutralität, möglichst in der Form eines Bundesstaates mit größerer Autonomie für Minderheiten.

Einige unserer Verbündeten liefern Waffen in die Ukraine, Deutschland liefert 5.000 Helme. Halten Sie die deutsche Haltung angesichts der Bedrohung der Ukraine durch Rußland für angemessen?

Kujat: Deutsche Politiker fordern mit unterschiedlicher Begründung, daß wir der Ukraine Waffen liefern. Einige fordern einschränkend Defensiv-­ oder Verteidigungswaffen, zur Abschreckung oder um zumindest das Risiko für Ruß­land zu erhöhen. Sie werden dabei massiv von einem großen Teil der Medien unterstützt. Dabei ist sich das deutsche Fernsehen nicht zu schade, wiederholt ukrainische Zivilisten mit Gewehrattrappen aus Holz zu zeigen, um diese Forderung mit einem moralischen Überguß zu versehen. Die Vereinigten Staaten haben der Ukraine seit 2014 Waffen im Wert von 2,5 Milliarden US­-Dollar geliefert. Auch andere Staaten liefern Waffen. Anzunehmen, die Ukraine würde dadurch in die Lage versetzt, sich erfolgreich gegen einen russischen Angriff zu verteidigen, wäre ein schwerwiegender Fehler. Und nur wenn die Ukraine über diese Fähigkeit verfügt, könnte sie Rußland von einem Angriff abschrecken. Zumindest müßte sie in der Lage sein, Rußland davon zu überzeugen, daß das Risiko des Scheiterns größer ist als die Aussicht auf einen Erfolg. Es bleibt also nur, daß die Aufrüstung der Ukraine ausreichen soll, um die russischen Verluste – oder wie oft argumentiert wird, den Preis – für einen Angriff zu erhöhen. Die Intensivierung der Kampfhandlungen würde allerdings auch den Blutzoll für die ukrainischen Streitkräfte erheblich vergrößern. Außerdem wird die angespannte Lage durch Waffenlieferungen weiter verschärft und das Risiko eines durch menschliches oder technisches Versagen ausgelösten Krieges erhöht, der von keiner Seite beabsichtigt ist. Die einzige vernünftige Alternative ist deshalb der Abbau der Spannungen durch Verhandlungen mit dem Ziel eines Interessenausgleichs, der allen Beteiligten Sicherheit und der internationalen Lage Stabilität gibt.

Die deutsche Haltung führt jedoch zu immer mehr Kritik im Ausland und bei unseren Partnern. Als Folge wird unsere Bündnistreue immer mehr in Frage gestellt. Ist dies eine berechtigte Kritik an der Haltung der Bundesregierung?

Kujat: Nein, diese Kritik ist nicht berechtigt. Zum einen ist die Ukraine kein Verbündeter. Niemand ist also berechtigt, unsere Bündnistreue in Frage zu stellen. Im Rahmen der NATO stellen wir mit dem Bundeswehr­-Kontingent in Litauen einen durchaus angemessenen Beitrag zur kollektiven Verteidigung. Überhaupt ist die Kritik unserer osteuropäischen Verbündeten unfair. Sie sollten vielleicht bedenken, daß sie ihre NATO­-Mitgliedschaft vor allem Deutschland zu verdanken haben. Ähnliches gilt für den Schutz des baltischen Luftraums durch Air Policing und die Schaffung der NATO Response Force, die eine Schlüsselrolle für die Sicherheit unserer osteuropäischen Verbündeten spielt. Auch für die Ukraine hat Deutschland sehr viel geleistet. Zunächst im Rahmen der NATO und nach 2014 unter anderem durch finanzielle Zuwendungen in Höhe von zwei Milliarden Euro. Die Bundesregierung liefert aus guten Gründen in dieser angespannten Lage keine Waffen, beteiligt sich aber intensiv an der Suche nach Lö­sungen für diese Krise. Das Ziel muß es sein, einen Krieg zwischen Rußland und der Ukraine abzuwenden und zu verhindern, daß aus der Ukraine­-Krise ein Krieg um die Ukraine entsteht.

[…]

In westlichen Medien wird das außenpolitische Engagement Rußlands häufig negativ kommentiert und Moskau eine machtpolitische Motivation unterstellt. So etwa auch im Syrien-Konflikt, der bis heute weiter schwelt. Würden Sie sagen, daß Rußland seinen Machtbereich insgesamt ausweitet?

Kujat: In der neuen Weltordnung der rivalisierenden großen Mächte China, Rußland, die Vereinigten Staaten und mit einer deutlichen Abstufung auch Europa versuchen China und Rußland ihren Einflußbereich auszudehnen. Dabei spielen machtpolitische ebenso wie wirtschaftliche Aspekte eine Rolle. Stärker noch als Rußland dehnt China seinen Einfluß schon seit Jahren im Nahen und Mittleren Osten und in Afrika aus. Eine besondere Bedeutung hat dabei das Projekt der Neuen Seidenstraße, das China und Europa verbinden soll. Beide Großmächte profitieren davon, daß die Vereinigten Staaten nicht mehr bereit sind, den Weltpolizisten zu spielen, und ihre weltweite Präsenz zurücknehmen. Das erleichtert ihnen den Zugang zu Regionen, in denen die Vereinigten Staaten bisher politischen, wirtschaftlichen und militärischen Einfluß ausgeübt haben. Die Vereinigten Staaten sehen in China, nicht in Rußland, den Rivalen, der ihre Weltmachtrolle gefährdet. Deshalb konzentrieren sie ihre Kräfte auf Ostasien und den Indo­-Pazifik sowie auf einen potentiellen Konflikt höchster Intensität im Gegensatz zu kleineren Konflikten der Vergangenheit. Zudem hat das Risiko des Entstehens zweier antagonistischer Blöcke in den letzten Jahren erheblich zugenommen: China und Rußland auf der einen Seite sowie die Vereinigten Staaten und Europa auf der anderen. Die Ukraine­-Krise könnte dem engen Schulterschluß zwischen Rußland und China einen neuen Impuls geben.

Einige Kommentatoren unterstellen dem russischen Präsidenten Wladimir Putin finstere Absichten. Seine Außenpolitik sei die späte Rache für den Niedergang Rußlands nach dem Fall des Eisernen Vorhangs. Wie realistisch sind solche Behauptungen?

Kujat: Präsident Putin hat das Ende der Sowjetunion als Tragödie bezeichnet; und in den folgenden Jahren hat Ruß­land eine schwierige politische und wirtschaftliche Phase überstehen müssen. In dieser Situation hat Rußland die Nähe zur NATO gesucht und eine strategische Partnerschaft angestrebt, die zu einem Modus vivendi im Hinblick auf die Zone der ehemaligen Staaten des Warschauer Pakts und früherer Sowjetrepubliken ermöglichen sollte. Man könnte das auch als Cordon sanitaire zwischen der NATO und Rußland bezeichnen. Mit der NATO­-Osterweiterung entstand jedoch eine Entwicklung, die den russischen sicherheitspolitischen Zielen diametral entgegengesetzt verlief und die Rußland nicht aufhalten konnte. Der Versuch des U-S­Präsidenten Bush 2008, die NATO­-Mitgliedstaaten dazu zu bewegen, die Ukraine und Georgien als Mitglieder einzuladen, bildete den Höhepunkt dieser Entwicklung und wurde für Rußland zu einem Wendepunkt im Verhältnis zur NATO. Putin hat die Zeit genutzt, um hochmoderne, leistungsfähige Streitkräfte aufzubauen; aus seiner Sicht die Voraussetzung dafür, daß Rußland den ihm als Weltmacht zustehenden Respekt erhält. Nachdem er dies erreicht hat, will er die derzeitige Ukraine­-Krise als Hebel nutzen, um eine weitere Entwicklung der europäischen Sicherheitsarchitektur zum Nachteil Rußlands zu verhindern. Zugleich ist diese Krise für ihn ein Katalysator für das Entstehen einer neuen europäischen Sicherheits-­ und Stabilitätsordnung, die Rußlands Sicherheitsinteressen gewährleistet.

[…]

Wie müßte Deutschland künftig außenpolitisch handeln, um einerseits seinen vertraglichen Verpflichtungen im Rahmen des transatlantischen Bündnisses nachzukommen und gleichzeitig den Frieden in Europa zu wahren?

Kujat: Die Bundesregierung muß jetzt zügig die Bundeswehr zur Landes-­ und Bündnisverteidigung befähigen. Das wäre ein wichtiger Beitrag zur gemeinsamen Sicherheit, auch als Grundlage einer neuen Phase von Rüstungskontrolle­ und Abrüstungsverhandlungen, Transparenz und vertrauensbildenden Maßnahmen und damit zur internationalen Stabilität. Wir sollten einen noch engeren Schulterschluß mit Frankreich anstreben und auf diese Weise die politische, wirtschaftliche und militärische Selbstbehauptung Europas mit aller Kraft vorantreiben. Der französische Präsident Macron hat dazu in den vergangenen Jahren Vorschläge gemacht, die von der Bundesregierung nicht aufgegriffen wurden. Vorrangig ist die Stärkung des europäischen Pfeilers in der NATO. Das würde unseren Einfluß auf die sicherheitspolitischen Grundlagen, beispielsweise das Strategische Konzept, auf die NATO­-Strategie sowie die Streitkräfte­ und Operationsplanung deutlich erhöhen und die Durchsetzung europäischer Sicherheitsinteressen fördern. Die gegenwärtige Ukraine-­Krise bietet zudem die Gelegenheit, unsere Vorstellung von einer europäischen Sicherheits­- und Friedensordnung Realität werden zu lassen. Auch dazu hat sich Präsident Macron bereits geäußert. Vielleicht gelingt es ja, den Traum von einer europäischen Friedensordnung Wirklichkeit werden zu lassen, wie sie mit der Charta von Paris entworfen wurde.

Herr General, vielen Dank für das Gespräch.

Harald Kujat, geboren am 1. März 1942 in Mielke (Westpreußen), kam bereits mit 17 Jahren zur Bundeswehr. Vom Rang des Unteroffiziers stieg er rasch in der militärischen Hierarchie auf und besuchte von 1975 bis 1977 den 20. Generalstabslehrgang der Luftwaffe an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg. Von 2000 bis 2002 bekleidete Kujat als Generalinspekteur der Bundeswehr das höchste militärische Amt innerhalb der deutschen Streitkräfte. Von 2002 bis 2005 war er zudem Vorsitzender des NATO­-Militärausschusses. Nach seinem Eintritt in den Ruhestand war Kujat unter anderem Aufsichtsratsvorsitzender des Rüstungsunternehmens Heckler & Koch. Für seine Verdienste wurde er, neben vielen weiteren Auszeichnungen, mit dem Großen Bundesverdienstkreuz, dem Kommandeur­Kreuz der französischen Ehrenlegion sowie der US­-amerikanischen Legion of Merit geehrt.

Bildquelle: Wikimedia/Fraktion DIE LINKE. im Bundestag – 180613 Nein zur Nato/CC BY 2.0

Dieses Interview erscheint in ungekürzter Länge in der März-Ausgabe des Deutschen Nachrichtenmagazins ZUERST!. Ab 25. Februar überall am Kiosk, im Bahnhofsbuchhandel oder hier bei uns erhältlich.

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