Nawalny: Nur ein Provokateur?

24. Januar 2018
Nawalny: Nur ein Provokateur?
International
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Foto: Symbolbild

Am 24. Januar trifft sich die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), um erneut den Fall des russischen Oppositionspolitikers Alexej Nawalny zu verhandeln. Bereits am 2. Februar 2017 hatte der EGMR im Verfahren von Nawalny gegen Rußland eine Entscheidung getroffen: Es gebe zwar klare Verstöße seitens der russischen Justiz, ein politisches Motiv sei aber nicht zu erkennen. Wird das neuerliche Urteil dasselbe sein, nachdem Nawalny von den russischen Präsidentschaftswahlen ausgeschlossen wurde?

Jedenfalls hat die Beschwerde von Nawalny vor dem Gericht in Straßburg nichts mit den kommenden Wahlen in Rußland zu tun. In den ersten beiden Jahren von Wladimir Putins dritter Legislaturperiode – 2012 bis 2014 – wurde der Oppositionelle siebenmal für das Veranstalten von nicht angemeldeten Kundgebungen und die Teilnahme daran verurteilt. Fünfmal mußte er Geldstrafen bezahlen, zweimal wurde er in Gewahrsam genommen – einmal für 15 Tage, ein anderes Mal für sieben Tage.

In diesen Fällen stellte der EGMR am 2. Februar 2017 fest, daß Nawalnys Recht auf Freiheit, auf persönliche Unversehrtheit, auf ein faires Verfahren und das Recht auf Versammlungsfreiheit in der Tat verletzt worden seien (basierend auf den Artikeln 5, 6 und 11 der europäischen Menschenrechtskonvention). Warum hat sich Nawalny damit nicht zufriedengegeben? Der EGMR gab Nawalny zwar in den oben genannten Artikeln Recht, verweigerte aber die Feststellung von Verletzungen der Artikel 14 („Diskriminierungsverbot“) und 18 („Begrenzung der Rechtseinschränkungen“) der Konvention. Aber Nawalny hält daran fest: Er werde als Politiker verfolgt, und der Grund dafür sei der Versuch, die Opposition zu unterdrücken.

Zuletzt hatte das Verfassungsgericht der Russischen Föderation Nawalnys Bestrebungen, an den Präsidentschaftswahlen doch noch teilzunehmen, eine Absage erteilt. Nachdem Nawalny wegen seiner Bewährungsstrafe als Kandidat nicht zugelassen wurde, reichte er eine Beschwerde ein. Diese wurde am 18. Januar abgewiesen. Wenn am 18. März in Rußland gewählt wird, steht auch Putin wieder auf dem Wahlzettel – aber Nawalny, der als Putins Erzrivale gilt, nicht. Auch wenn russische Meinungsforscher dem Herausforderer ohnehin keine Chancen einräumen, den extrem beliebten Amtsinhaber zu schlagen, behauptet Nawalny, genauso wie zahlreiche US-amerikanische und europäische Politiker: Putin fürchte sich vor Nawalny, von dem ein ähnlicher Umsturz wie der in der Ukraine ausgehen könnte.

Tatsächlich sind die russischen Urteile, die der EGMR kritisiert hat, nicht der Grund, warum Nawalny sich nicht als Kandidat bei den Wahlen aufstellen lassen darf. Die Zentrale Wahlkommission bezieht sich – genau wie später das Verfassungsgericht – auf Nawalnys andere Verurteilung, die ihn daran hindert, sich als Kandidat registrieren zu lassen. 2013 wurde Nawalny schuldig gesprochen, da es das Gericht als erwiesen ansah, daß er 2009 als Berater des damaligen Gouverneurs des Oblast Kirow, Nikita Belykh, Gelder des staatlichen Unternehmens Kirowles veruntreut habe. Auch Belkykh sitzt derzeit wegen des Verdachts auf Bestechlichkeit in Untersuchungshaft. Nawalny wurde zu einer Strafe von fünf Jahren Gefängnis verurteilt, die später zur Bewährung ausgesetzt wurde. Erst ab dann verstärkten sich seine politischen Ambitionen, und er stieg zu einer der Führungsfiguren der überschaubaren russischen Opposition auf.

Doch war die Verurteilung im Kirowles-Fall nicht der Gegenstand der Protestnote des EGMR vom 2. Februar 2017, sondern der Umgang der Behörden mit Nawalny bei seinen Versammlungen. Jetzt allerdings so zu tun, als hätte „Kirowles“ mit seiner Rolle in der Opposition zu tun, hilft Nawalny dabei, seine Verurteilung in einen politischen Kontext zu bringen: Es ist die eine Sache, Staatsgelder zu veruntreuen, eine andere, wenn ein Politiker zu Unrecht verfolgt wird.

Was die Verhaftungen bei den Demonstrationen und Versammlungen betrifft, so beharrt Nawalny auf seinem Standpunkt, daß die Polizei nie einen Grund gehabt hätte, ihn direkt festzunehmen und in die Arrestzelle zu stecken. Statt dessen hätte sie auch einfach den Sachverhalt aufnehmen können, ohne den Politiker zu inhaftieren. Das nimmt Nawalny zum Anlaß für den Vorwurf, daß es von vorneherein das Ziel der Polizei gewesen sei, ihm einen Maulkorb zu verpassen und ihm so die Möglichkeit zu nehmen, seine Korruptionsvorwürfe gegen die Regierung vorzutragen.

Allerdings sollte man sich die Bilder der Versammlungen ansehen, bei denen Nawalny verhaftet wurde: Den Ablauf einer solchen unangemeldeten russischen Demonstration kennt man auch aus dem Westen: Dort marschieren einige Leute mit einer legitimen Forderung, dann verlangt die Polizei die Auflösung der Veranstaltung – da sie nicht angemeldet wurde. Bis hierhin ist alles ruhig und friedlich, die Stimmung ist entspannt. Dann – absichtlich oder nicht – kommt jemand – natürlich nicht Nawalny selbst – den Polizisten zu nahe: Innerhalb von Sekunden eskaliert die Situation. Es kommt zu Zusammenstößen, Gewalt und Verhaftungen. Dort entstehen die Bilder von verletzten Beamten, denen man dann weniger Glauben schenken soll als den Fotos, auf denen sich Demonstranten vor den Schlägen von Polizeistöcken winden.

Nach einer Analyse sämtlicher von Nawalny angemeldeten Demonstrationen kann man eine paradoxe Tendenz ausmachen: Die Versammlungen von Nawalny und seiner Anhänger werden weitaus öfter genehmigt als untersagt. Nur: Nawalny erscheint oftmals nicht zu den erlaubten Veranstaltungen oder verlegt kurzfristig den Ort. Wird eine Veranstaltung nicht genehmigt, ist das das Signal für ihn zum handeln

Nicht nur russische Beobachter der Nawalny-Prozesse fragen sich: „Bedeutet das nicht, daß die Zusammenstöße mit der Polizei – und die ist bei nicht angemeldeten Versammlungen oftmals unausweichlich – das Ziel von Alexej Nawalny sind? Bei jedem solchen Zusammenstoß besteht die Gefahr, daß unbeteiligte Passanten verletzt werden. Für jeden Provokateur sind diese zivilen Kollateralschäden ein Glücksfall. Ein unheimlicher Gedanke: Ist das auch das, was Nawalny will?“

Brüssel, am 26. November 2017: Eine Demonstration gegen die Sklaverei in Libyen endet in einem Gewaltexzeß, als 30 Personen in Sturmmasken in den Reihen der Demonstranten auftauchten. Sie zogen Richtung Innenstadt, wo die Gewaltbereiten damit begannen, die Scheiben von Geschäften einzuwerfen.

Für sie galt der Privatbesitz anderer weniger als das eigene Recht auf Meinungsäußerung. Der Bürgermeister der belgischen Hauptstadt, Philippe Close, sprach von einem „inakzeptablen Verhalten“ und wies die Polizei an, so viele Chaoten wie möglich festzunehmen. „Zero tolerance“, teilte er kurz darauf auf seinem Twitter-Konto mit – „Null Toleranz“. Hätte es hier nicht auch gereicht, nur die Verstöße zu protokollieren? Wirft man auch hier der Polizei vor, daß ihr Vorgehen politisch motiviert sei? Und würden die Ladenbesitzer ablehnen, wenn man dem „inakzeptablen Verhalten“ der Randalierer ohne „Toleranz“ sofort Einhalt geboten hätte – noch bevor sie die Scheiben eingeworfen hatten?

Vielen Russen drängt sich eine Frage auf: Kann Freiheit immer grenzenlos sein? Welches Recht ist wichtiger: Das Recht auf die eigene Freiheit, sich zu versammeln, selbst dann, wenn es untersagt wird? Oder das Recht auf Sicherheit und die Unversehrtheit des eigenen Lebens? Ist es möglich, daß die zwischenzeitliche Festnahme von Nawalny – selbst wenn es zu Verstößen der Behörden und Polizeigewalt gekommen wäre – eine weitere Eskalation der Zusammenstöße zwischen Polizei und Demonstranten sogar verhindert hat? Wenn heute – am 24. Januar – erneut verhandelt wird, dann muß der Fokus auf den Fakten liegen – nicht auf dem verklärten Bild, das Nawalny von sich selbst zeichnet und das nur allzu gerne von der westlichen Mainstreampresse übernommen wird.

Ein Kommentar

  1. Rack sagt:

    Willkür? Manche Beschwerden werden gar nicht erst angenommen, trotz ausführlicher Begründung!

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