Die Lobbyisten des transatlantischen Freihandelsabkommens TTIP durchleben gerade eine entsagungsvolle Zeit. Spätestens mit den Erklärungen von Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) Ende August, der das Abkommen grundsätzlich in Frage gestellt hat, weil „wir uns den amerikanischen Forderungen“ als Europäer „nicht unterwerfen“ dürften, und der Forderung französischer Regierungsvertreter Anfang September, die Handelsgespräche auszusetzen, gilt TTIP als „angezählt“, wenn nicht sogar als gescheitert. Anstoß genommen wird von der französischen Seite, aber auch von Gabriel insbesondere an der Art und Weise der amerikanischen Verhandlungsführung. So erklärte der französische Außenhandelsminister Matthias Fekl ungewohnt deutlich, die Amerikaner gäben „nichts oder nur Krümel“. So verhandele man „nicht mit einem Verbündeten“. Und auch Frankreichs Präsident François Hollande betonte, die Verhandlungen seien „festgefahren“, Positionen würden „nicht respektiert“; es sei „eindeutig unausgeglichen“. Frankreich ziehe es vor, keine „Illusionen darüber zu verbreiten“, daß eine Einigung „vor dem Ende der Amtszeit des derzeitigen amerikanischen Präsidenten möglich“ sei.
Das Bundeswirtschaftsministerium hatte schon Wochen vorher eine bezeichnende Zwischenbilanz der seit Juni 2013 laufenden Verhandlungen veröffentlicht, in der davon die Rede ist, daß in keinem der „27 bis 30 Kapitel, die das TTIP-Abkommen am Ende umfassen könnte, eine Verständigung in der Sache erfolgt“ sei. So weigerten sich die USA zum Beispiel, europäische Firmen bei der öffentlichen Auftragsvergabe gleichzustellen. Sie wollten vom Prinzip „Buy American“, sprich der Bevorzugung heimischer Firmen, nicht abrücken. Die EU hingegen will laut Medienberichten an Zöllen für bestimmte Agrarprodukte festhalten, was die Amerikaner zu der Gegenforderung veranlaßt hat, Importzölle zum Schutz ihrer Autoindustrie erheben zu dürfen.
Verschärfend im Hinblick auf das transatlantische „Klima“ kommt die Entscheidung der EU-Kommission gegen den (…)
Dessenungeachtet gibt es insbesondere in den Reihen der Unionsparteien genug Stimmen, die der Schwanengesang auf TTIP wenig beeindruckt. Allen voran erklärte Bundeskanzlerin Merkel (CDU), sie halte den Abgesang auf das TTIP-Freihandelsabkommen der EU mit den USA für verfrüht. „Wir haben ein Interesse daran, nicht zurückzufallen hinter andere Regionen in der Welt, zum Beispiel die asiatischen Regionen, die mit den Vereinigten Staaten ein solches Abkommen geschlossen haben“, erklärte die CDU-Chefin in einem NDR-Info-Interview, was ihr scharfe Kritik der SPD einbrachte. SPD-Generalsekretärin Katarina Barley warf der Union laut Spiegel Online vor, TTIP von Anfang an nicht ehrlich und kritisch genug behandelt zu haben. Die Union müsse sich „bei TTIP endlich für die Verteidigung europäischer und deutscher Interessen einsetzen“. Derartige Erwägungen sind aus Sicht des stellvertretenden CDU/CSU-Fraktionsvorsitzenden Michael Fuchs bestenfalls Einwürfe von „Besitzstandswahrern“, die TTIP mit „unwahren Behauptungen kaputtreden“ wollten. Fuchs stimmte im weiteren in die Mantra-Formeln seiner Parteichefin ein und verwies aufs neue darauf, daß sich die deutsche Wirtschaft auf Konkurrenz aus Asien einstimmen müsse. „Wir“ hätten, so Fuchs laut der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ), jetzt die Wahl: „Wollen wir Handelsregeln weiter mitbestimmen, oder machen wir uns zu Zaungästen?“
Flankiert wird die Union von einem der medialen Sturmgeschütze des komplexen transatlantischen Netzwerkes, nämlich der Tageszeitung Die Welt, bei der die Aussicht, die EU könnte zum „Zaungast“ herabsinken, geradezu eine totale publizistische Mobilmachung ausgelöst hat. „Wer gegen Freihandel“ sei, sei „gegen die Vernunft“, polterte apodiktisch zum Beispiel der Europakorrespondent der Welt, Dirk Schümer, Ende August. Es herrsche mit Blick auf TTIP und CETA, dem bereits zu Ende verhandelten europäisch-kanadischen Freihandelsabkommen, „derselbe Irrationalismus wie beim NATO-Doppelbeschluß“. Es müsse einmal wieder, so Schümer, „German Angst“ im Spiel sein, sonst würden sich die Deutschen den angeblichen Segnungen von TTIP nicht derart „irrational“ entgegenstellen. Einen Tag später legte die Welt noch einmal nach und räsonierte darüber, was die Deutschen „ohne TTIP“ verpassen würden, nämlich daß sie sich „auf der Gewinnerseite“ wiederfänden, und daß ihnen eine „Stange Geld“ entgehe. Wiederum einen Tag später verkündete die Welt dann den ultimativen GAU: Fast gescheiterte Freihandelsabkommen wie TTIP und „immer neue Handelshemmnisse“ deuteten, so die Welt alarmistisch, nach Meinung „von Top-Ökonomen“ auf das „Ende der Globalisierung“ hin. Schon 1913 seien „neuer Protektionismus und Nationalismus die Gründe für das Ende der Globalisierung des 20. Jahrhunderts“ gewesen, wird einer dieser angeblichen Top-Ökonomen zitiert. Ähnliches erlebten „wir“, so raunt Gabriel Felbermayr, Leiter des Münchner Ifo-Zentrums für Außenwirtschaft, laut Welt unheilvoll, „derzeit wieder“.
Wer angesichts derart durchsichtiger Propaganda die Fallhöhe der laufenden Diskussion um die komplexen Auswirkungen eines transatlantischen Freihandelsabkommens für deutlich zu niedrig gehängt hält, liegt durchaus richtig. Entscheidend auch im Hinblick auf TTIP ist wieder einmal das, was in den polyphonen, oft genug von durchsichtigen Interessen geprägten Einwürfen von „Meinungs-Lobbyisten“ nicht zur Sprache kommt. Diese Lobbyisten, oft genug „Knotenpunkte“ in transatlantischen Netzwerken, heften sich auf das Revers, angeblich im „deutschen“ oder „europäischen Interesse“ zu argumentieren, oder nehmen für sich in Anspruch, Anwälte einer wie auch immer gearteten „Vernunft“ zu sein.
Zu denjenigen Publizisten, die sich um ein differenziertes Bild der Interessenlagen im Hinblick auf TTIP oder CETA bemühen, gehört unter anderem der Politikwissenschaftler Malte Daniljuk. Er verweist darauf, daß die Position der Amerikaner im Zusammenhang einer „grand strategy“ zu sehen ist. Der Begriff „grand strategy“ kann als Gesamtstrategie eines (…)
Der Fokus der USA liege „klar auf der Schaffung eines Handelsimperiums“, das mit dem Britischen Empire vergleichbar sei. In seiner im Juni 2016 veröffentlichten Studie Globale Umordnung erläutert Daniljuk, daß der „Fracking-Boom“ keineswegs Ausdruck einer „technischen Revolution“ sei, sondern vielmehr das Ergebnis „energiepolitischer Steuerungsmaßnahmen“, die bereits von US-Präsident George W. Bush angestoßen wurden. Dazu gehörten zum Beispiel die Absenkung von Umweltstandards oder die finanzielle Unterstützung von Erschließungsprojekten.
Ab 2011 mündeten diese Maßnahmen in der Frage, wie die zunehmende Förderung von Schieferöl in Politik umgemünzt werden kann. In ihrer neuen energiepolitischen Strategie vom März 2011, Titel: „Blaupause für eine sichere Energiezukunft“, erklärte die Regierung Obama in diesem Zusammenhang folgendes: „Wir müssen amerikanische Vermögenswerte, Innovationen und Technologie bereitstellen, so daß wir hier zu Hause sicher und verantwortungsvoll mehr Energie fördern und Marktführer in der globalen Energiewirtschaft werden.“ Was das für Staaten heißt, die ihre Einnahmen aus Erdölexporten beziehen, deklinierten unter anderem Robert Blackwell und Meghan O’Sullivan, die beide als Nationale Sicherheitsberater unter US-Präsident George W. Bush arbeiteten, 2014 in der Zeitschrift Foreign Affairs durch, der Publikation der überaus einflußreichen privaten Denkfabrik Council on Foreign Relations (CFR), die als „regierungsnah“ gilt. Die Autoren gehen davon aus, daß sich die USA in eine „Energiesupermacht“ verwandeln werden, was dem Land in den kommenden Jahren eine verstärkte globale Führungsrolle bescheren werde. Staaten, die ihre „Energieressourcen für außenpolitische Zwecke“ nutzten, müßten einen schrumpfenden Einfluß gewärtigen. Daß Rußland dabei am meisten zu verlieren hat, daran lassen die Autoren keinen Zweifel aufkommen.
Was damit in Klarheit gemeint ist, liegt auf der Hand: Rußland wird seine Energieressourcen in Zukunft weit weniger als Waffe in Anschlag bringen können. Mit Ländern, die mit den USA durch ein Freihandelsabkommen verbunden sind, können demnach, so Daniljuk, im Rahmen einer neuen Energiepolitik „engere Bündnisbeziehungen etabliert werden“. Dieses Szenario impliziert auch, daß die Bedeutung des Mittleren und Nahen Ostens für die US-Außenpolitik generell zurückgehe. Entsprechend ziele die US-Außenpolitik „vor allem auf handelspolitische Maßnahmen“, um künftig „weltweit Absatzmärkte für eine hochproduktive US-Wirtschaft durch Freihandelsabkommen abzusichern“.
Daß sich das Bundeskanzleramt dieser energiestrategischen Ziele der Amerikaner bewußt ist, machte die Kanzlerin bei ihrem USA-Besuch im Mai 2015 deutlich, als sie vor der US-Handelskammer erklärte, der Energiesektor werde „möglicherweise die größten Gewinne“ aus TTIP ziehen. Die Finanznachrichtenagentur Bloomberg berichtete in diesem Zusammenhang weiter, Merkel habe darauf verwiesen, das Projekt diene dazu, Europa von einer „unilateralen Versorgungsquelle“ (meint: Rußland) unabhängig zu machen. Für Deutschland werde es „deshalb sehr wichtig sein, die TTIP-Verhandlungen sehr schnell zu einem Abschluß zu bringen“.
Merkel bewegt sich damit auf einer Linie, die ganz US-Interessen entspricht, ist doch eine eigenständige Politik von US-„Vasallen“ wie Deutschland, wie sie in Zbigniew Brzezinskis immer noch instruktivem Werk The Grand Chessboard (Die einzige Weltmacht, 1997) genannt werden, aus Sicht der USA nicht vorgesehen. Noch deutlicher wurde George Friedman, der Gründer des Informationsdienstes „Stratfor“, der im Februar 2015 auf einer Veranstaltung der US-Denkfabrik „Chicago Council on Global Affairs“ erklärte, es gehe den USA, was die westliche Seite betreffe, im Kern darum, „ein Bündnis zwischen Rußland und Deutschland, als europäischer Führungsmacht, unter allen Umständen zu verhindern“. Was Rußland betreffe, gehe es nicht darum, es zu erobern, sondern darum, es zu schädigen, um es zu schwächen und so kontrollieren zu können. „Die eurasische Umarmung Europas mit Rußland“, so die Publizistin Friederike Beck, „die unter anderem TTIP verhindern würde, gilt als Teufelswerk, obwohl naheliegend“.
Auch Beck sieht in ihrem gerade erschienenen neuen Buch Die geheime Migrationsagenda (Rottenburg 2016) mit Blick auf TTIP eine „grand strategy“ walten, nämlich ein Europa, das „den Vereinigten Staaten ähnlicher gemacht“ werde. Das gilt im übrigen auch für die kulturelle Identität Europas. So machte Kutowskiunter anderem die Wiener Rechtsanwältin Eva Maria Barki in einem Interview mit dem Unternehmermagazin a3ECO darauf aufmerksam, daß sich TTIP auch „auf Dienstleistungen und auf kulturelle Güter“ beziehe, was „vielfach übersehen“ werde. Auch Kultur werde „zur Ware“. Unter dem Begriff „Harmonisierung“ werde „die Verdrängung der europäischen Kultur in Theater, Musik, Literatur und bildenden Künsten befürchtet“, was durch die „Regulierung von Förderungen leicht zu bewerkstelligen“ sei.
Diese „grand strategy“ sei nach Beck die „eigentliche Motivation“ hinter dem Freihandelsabkommen, das US-Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton, die sich seit kurzem wohl aus wahltaktischen Gründen TTIP-kritisch gibt, bezeichnenderweise als „Wirtschafts-NATO“ charakterisiert hat. Clintons Glaubwürdigkeit wird diese Wende mit Sicherheit nicht stärken. Der US-Nachrichtensender CNN habe, so berichtete beispielsweise die Welt, 45 Auftritte von Clinton ausfindig gemacht, bei denen sie sich als Außenministerin für genau jenes Abkommen stark gemacht hat, von dem sie sich nun distanziere. Hinzu kommt, daß Clintons Ehemann Bill 1994 als US-Präsident das nordamerikanische Freihandelsabkommen NAFTA unterzeichnete.
Stichwort „Wirtschafts-NATO“: In der Tat würde die NATO bei einem Inkrafttreten von TTIP um ein Wirtschaftsbündnis ergänzt, das, (…)
Ob all diese Szenarien nun als abgewendet betrachtet werden können, muß an dieser Stelle dahingestellt bleiben. Spekulation bleibt auch die Frage, ob Donald Trump oder Hillary Clinton als US-Präsidenten bei ihrer zuletzt bekundeten Distanz zu TTIP bleiben, was zu bezweifeln ist. Zu mächtig sind aus Sicht der USA die Kapital- und die geostrategischen Interessen, die hinter diesem Abkommen stehen, als daß es einfach zu den Akten gelegt werden könnte. Zu befürchten ist ein lauwarmer Kompromiß, bei dem die Tücken im Detail liegen und der den Europäern aufs neue als „Wachstumsmotor“, „Arbeitsplatzmaschine“ oder „Jahrhundertchance“ anmoderiert werden dürfte. Es liegt indes in ihren Händen, ob sie diesem Angriff auf die Identität Europas eine definitive Absage erteilen oder ob endgültig die Amerikanisierungsfalle – so der Titel eines Buches der Wirtschaftswissenschaftlerin Ulrike Reisach – zuschnappt. Georg Kutowski
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Wer hier von einem „Rückfall in den Absolutismus schreibt, der ist verblödet, und zwar komplett.
Von TTIP wird sogar in der westlichen Einheitspresse viel geredet; eine Widerstandsgruppe, die sich verdächtig von echten rechten Grenzensetzern distanziert und sich damit als Honigtopf der TTIP-Befürworter verdächtig macht (https://stop-ttip.org/de/), kämpft auch gegen CETA (bezüglich von Kanada, über das dortige US-Gesellschaften CETA-Zugriff auf Europa erhalten). Kaum jemals kommt TiSA zur Sprache, einem Abkommen zum „liberalen“ Handel mit Dienstleistungen, das 23 Staaten einschl. USA und EU im Finsteren fabrizieren. „Liberal“ bedeutet hier nicht Selbstbestimmung, sondern Tyrannei des globalen Finanzkapitals anstelle von gesundem, überschaubarem und daher demokratiefähigem regionalem Arbeiten und Wirtschaften.