Wolfsburg. Die Polizei in der niedersächsischen Salafismus-Hochburg Wolfsburg hat in den Jahren 2013 und 2014 keinen einzigen Antrag auf Paßentzug für ausreisewillige Islamisten gestellt. Auch das LKA blieb offenbar untätig.
Wie NDR, WDR und „Süddeutsche Zeitung“ berichten, sind aus Wolfsburg mittlerweile mindestens 15 Islamisten nach Syrien und in den Irak ausgereist, drei sind inzwischen tot. Mindestens einer soll bei einem Selbstmordanschlag im irakischen Ramadi gestorben sein. Das niedersächsische Landeskriminalamt (LKA) schritt demzufolge auch nicht ein, nachdem sich der Bruder eines Reisewilligen im April 2014 an die Behörde gewandt und darum gebeten hatte, diesem den Paß zu entziehen. Er könne es nicht ertragen, daß sein Bruder, der gerade erst eine Festanstellung bei VW bekommen habe, „sein Leben hinwerfe“. Bei einem Treffen mit Staatsschutz-Beamten wurden auch die Namen weiterer reisewilliger Islamisten genannt. Wolfsburg sei ein „heißes Pflaster, es gäbe viele, die nach Syrien gehen würden“, heißt es in einem LKA-Vermerk über das Treffen. Trotz dieser konkreten Informationen konnte sich einen Monat später eine sechsköpfige Gruppe ungehindert auf den Weg machen – unter ihnen auch jener Mann, dessen Bruder das LKA um Hilfe gebeten hatte. Nach Erkenntnissen der Behörden durchliefen die Wolfsburger ein Trainingslager der Islamisten Miliz „Islamischer Staat“ (IS), einige von ihnen wurden später aufgefordert, sich für Selbstmordattentate zur Verfügung zu stellen.
Auch als einer aus der Gruppe Monate später nach Deutschland zurückkehrte, versäumte es das LKA, seine Wohnung zu durchsuchen und ihn zu vernehmen. Als dies dann schließlich geschah, machte der Rückkehrer sogar gegen den Rat seines damaligen Anwalts Angaben – und sagte vergleichsweise offen über Struktur und Personen der Wolfsburger Islamisten-Szene aus. In der Zwischenzeit hatten sich aber mindestens zwei weitere Dschihadisten aus Wolfsburg ungehindert auf den Weg zum IS gemacht. Auf Anfrage wollte sich die Behörde nicht dazu äußern, warum in Wolfsburg keine Pässe entzogen wurden. Wegen einer „Vielzahl von Ermittlungen in dieser Region“ könne man keine Angaben machen, es sei „strikte Zurückhaltung“ geboten. Man beobachte und analysiere „die Wolfsburger Salafistenszene“ seit Jahren, der Entzug von Pässen werde „regelmäßig geprüft“.
Insgesamt kämpften im Mittelmeerland Syrien Ende 2013 rund 100.000 Rebellen gegen die Armee, etwa die Hälfte davon gehörte einer Studie zufolge zum selben Zeitpunkt sunnitischen Islamisten-Milizien wie der Jabhat al-Nusra oder dem “Islamischen Staat” (IS, vormals “Islamischer Staat im Irak und Syrien”, ISIS) an – seit September 2014 wird allein für den IS von 31.500 bis 50.000 Kämpfern ausgegangen, rund 15.000 davon stammen aus dem Ausland. Aktuellere Gesamtzahlen gibt es derzeit nicht. Finanzielle Unterstützung bekommen die Islamisten vornehmlich aus Saudi-Arabien, das als Verbündeter der USA an einer Schwächung des Iran interessiert ist, welcher wiederum auf der Seite Syriens und des Irak steht. Neben zahlreichen ausländischen Kämpfern vor allem aus dem arabischen Raum stammen auch mindestens 3.500 der kämpfenden Islamisten aus Europa. Aus Deutschland sind mindestens 650 Kämpfer – zumeist Personen ausländischer Abstammung, aber auch Konvertiten – nach Syrien ausgereist. Mindestens 75 von ihnen sind in Gefechten von der syrischen Armee, der Regierung nahestehenden Milizen, kurdischen Verbänden oder rivalisierenden islamistischen Gruppierungen getötet worden, der bekannteste von ihnen war der ehemalige U18-Fußballnationalspieler Burak Karan. Mehrere, darunter der Berliner Ex-Rapper “Deso Dogg” alias Denis Mamadou Cuspert, wurden verwundet. Inzwischen sind nach Syrien ausgereiste Islamisten aus Deutschland grenzübergreifend auch im benachbarten Irak aktiv: In mindestens neun Fällen sprengten sich deutsche IS-Kämpfer sogar als Selbstmordattentäter in die Luft. Es wird befürchtet, daß in dem Konflikt weiter radikalisierte Islamisten nach ihrer Rückkehr Terroranschläge auch in Deutschland planen könnten. (lp)