Haltebefehl mit Folgen – vor 75 Jahren rettete das „Wunder von Dünkirchen“ England

8. November 2015
Haltebefehl mit Folgen – vor 75 Jahren rettete das „Wunder von Dünkirchen“ England
Geschichte
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Foto: Symbolbild

Vor 75 Jahren: Das „Wunder von Dünkirchen“ rettete England vor der Niederlage

Auch dieser „runde“ Jahrestag ist es wert, in Erinnerung gerufen zu werden: Vor 75 Jahren, im Frühjahr 1940, wurde Frankreich in einem atemberaubenden Sechs-Wochen-Feldzug von der deutschen Wehrmacht niedergeworfen. Der Blitzkrieg im Westen ging dabei so rasch vonstatten, daß auch die deutsche Führung über die eigenen Erfolge verblüfft war.

Nach dem für die Alliierten überraschenden deutschen Vorstoß durch die Ardennen erreichten Panzerverbände unter Heinz Guderian bereits am 20. Mai 1940 die französische Kanalküste. Gleichzeitig setzte die deutsche Heeresgruppe B im Norden ihren Vormarsch durch Belgien unaufhaltsam fort. Die Wehrmacht schnitt damit wenige Tage nach Beginn ihrer Westoffensive – am 10. Mai – Hunderttausende Soldaten der französischen und britischen Truppen in Flandern und entlang der belgisch-französischen Kanalküste von allen rückwärtigen Verbindungen ab. Bei Dünkirchen begann deshalb am 26. Mai eine der größten Evakuierungsaktionen des Krieges, um britische und französische Einheiten dem Zugriff der Wehrmacht zu entziehen.

Auch Hitler und seine Generale waren von der Schnelligkeit des deutschen Vormarschs überrascht. Über das weitere Vorgehen herrschte Uneinigkeit. Während der Oberbefehlshaber des Heeres Walther von Brauchitsch sowie Generalstabschef Franz Halder zu einem vernichtenden Entscheidungsschlag der deutschen Panzertruppen gegen die abgeschnittenen Alliierten drängten, neigte Hitler zu vorsichtigerem Taktieren – wie er überhaupt immer wieder vor und während des Westfeldzuges vor der eigenen Courage zurückzuschrecken schien. Bereits den Beginn des Feldzugs im Westen hatte er mit Rücksicht auf das Wetter etliche Male verschoben. Für den Frontsoldaten des Ersten Weltkrieges war Frankreich ein Angstgegner.

Auch jetzt, mitten im unaufhaltsamen Vormarsch, bestätigte er am 24. Mai 1940 einen Haltebefehl vom Oberbefehlshaber der Heeresgruppe A, Gerd von Rundstedt, der seine Panzerverbände neu gruppieren wollte. Zudem vertraute Hitler auf die vollmundigen Ankündigungen von Hermann Göring, daß die deutsche Luftwaffe die gegnerischen Verbände ohne Unterstützung des Heeres werde ausschalten können.

Die überraschende Weisung erging am 24. Mai 1940 um genau 12.45 Uhr. Wörtlich ordnete die Heeresgruppe an: „Auf Befehl des Führers […] ist nordwestlich Arras die allgemeine Linie Lens– Bethune–Aire–St. Omer–Gravelines (Kanallinie) nicht zu überschreiten.“

Diese Order ist als „Halt-Befehl“ berühmt und berüchtigt geworden. Denn sie ermöglichte das „Wunder von Dünkirchen“: Die eingekesselten alliierten Soldaten nutzten die Angriffspause, um Stellungen auszubauen, die einige Tage lang gehalten werden konnten. Das genügte, um der britischen Regierung genügend Zeit für eine gewaltige Evakuierungsaktion zu verschaffen. Mehr als 370.000 britische und französische Soldaten konnten über den Kanal entkommen. Als der „Halt-Befehl“ nach knapp 49 Stunden wieder aufgehoben wurde, war es zu spät – die inzwischen errichteten Verteidigungsstellungen der Alliierten genügten, um die Panzerspitzen der Wehrmacht auf Distanz zu halten, bis die Masse der eingeschlossenen Truppen entkommen war.

Seit Jahrzehnten wird darüber spekuliert, was die Gründe für den folgenschweren Haltebefehl waren. Das Wetter oder das sumpfige Gelände können es in diesem Fall nicht gewesen sein, denn der Regen, der den Untergrund sumpfig machte, fiel erst nach der Halte-Order.

Auch die sogenannte „Panzerkrise“ – die deutschen Generale wollten die motorisierten Einheiten für weitere Operationen schonen – ist eine Legende. Zwar hatte die Zahl der einsatzbereiten Kampfwagen im Zuge des raschen Vormarsches tatsächlich drastisch abgenommen, aber nachdem Ersatzteile von der Luftwaffe herangeschafft worden waren, konnten die meisten Panzer innerhalb weniger Stunden wieder instand gesetzt werden. Im übrigen hätte am 24. Mai, dem Tag des Stopp-Befehls, ein einziges Panzerregiment genügt, um auf das nur 15 Kilometer entfernte und kaum verteidigte Dünkirchen vorzustoßen.

Gelegentlich wurde auch die Vermutung geäußert, die deutsche Generalität habe einen französischen Flankenangriff gefürchtet, etwa durch den dynamischen Panzergeneral Charles de Gaulle. Doch auch das ist wenig plausibel – der einzige ernstzunehmende Flankenangriff der Alliierten war soeben erst bei Arras gescheitert. Wie die Feindaufklärung meldete, gab es nirgendwo ein Anzeichen für einen neuen gefährlichen Angriffsversuch. Die Alliierten waren schlicht und einfach nicht in der Lage, ihre weit auseinander gezogenen Panzerverbände zu einem operativen Gegenangriff zusammenzufassen.

Bleibt noch die oft gehörte Mutmaßung, Hitler habe die Engländer schonen wollen, um sie für einen Verhandlungsfrieden geneigter zu machen. Ganz abwegig ist diese These nicht. Es ist ein offenes Geheimnis, daß Hitler der Krieg gegen die „rasseverwandten“ Engländer ein Greuel war und daß er ihn lieber heute als morgen beendet hätte. Seine politische Vision war eine gemeinsame Beherrschung der Welt durch die Engländer – auf den Weltmeeren und in Übersee – und die Deutschen als dominierende europäische Kontinentalmacht. Der weitere Kriegsverlauf sollte alle diese Überlegungen allerdings jäh enttäuschen – Kriegspremier Winston Churchill war an einem Frieden mit Deutschland schlichtweg nicht interessiert und torpedierte jeden Versuch schon im Ansatz.

Hitler selbst behauptete später, er habe die Engländer absichtlich entkommen lassen. Er „hätte es nicht über sich gebracht, eine Armee von so guter blutsverwandter englischer Rasse zu vernichten“. Allerdings war auch Hitler, der ab Mitte der dreißiger Jahre eine Reihe zum Teil atemberaubender außenpolitischer Erfolge hatte einfahren können, kein Dilettant – er konnte nicht so naiv sein, die britische Armee, die ein unschätzbares Faustpfand für Friedensverhandlungen darstellte, absichtlich entkommen und sich so einen gewichtigen Trumpf aus der Hand nehmen zu lassen.

Der Militärhistoriker und Oberst im Ruhestand Karl-Heinz Frieser (Jahrgang 1949) hat eine andere, ungleich banalere Erklärung für den „Halt- Befehl“. Seiner Auffassung nach ging es hinter den Kulissen um ein Kompetenzgerangel zwischen Hitler und seinen Generalen. In einem Interview präzisiert Frieser, der der „Blitzkrieg- Legende“ im Westen ein lesenswertes Buch gewidmet hat, seine Einschätzung: „Bei dieser Kontroverse kam es zur Rebellion der Generäle im Oberkommando des Heeres gegen Hitler. Es ging darum, wer bei operativen Entscheidungen das Sagen haben sollte: der Generalstab oder der Zivilist Hitler. Dieser gewann den Machtkampf gegen die Generäle von Brauchitsch und Halder. Hitlers Heeresadjutant, Major Engel, berichtete später, daß es beim ‚Halt Befehl‘ nicht um ‚sachliche Argumente‘ gegangen sei. Hitler wollte vielmehr seinen Generälen demonstrieren, ‚daß er führe und niemand anders‘.“

So oder so: Ohne Hitlers Intervention wäre es zur größten Katastrophe in der englischen Geschichte gekommen. Großbritannien hätte fast seine gesamte Berufsarmee verloren. Dies hätte wohl auch das Ende der Regierung Churchill bedeutet – und eine neue Regierung hätte ein großzügiges Friedensangebot Hitlers kaum zurückweisen können. Wie die Geschichte dann verlaufen wäre, wenn die im Westen siegreichen deutschen Kräfte gegen die Sowjetunion hätten konzentriert werden können, ist eine müßige, gleichwohl spannende Frage.

Die wahre Geschichte dagegen kennen wir: Hitler degradierte den schon sicheren strategischen Erfolg zu einem rein operativen. Das „Wunder von Sedan“, der überraschende Durchbruch durch die alliierte Front im Mai 1940, wurde durch das selbstverschuldete „Wunder von Dünkirchen“ geradezu konterkariert. Schlimmer noch: Trotz deutscher Luftangriffe konnten bis zum 4. Juni von Dünkirchen und den umliegenden Stränden aus knapp 370.000 alliierte Soldaten, darunter etwa 139.000 Franzosen, unter Zurücklassung ihres schweren Geräts nach England in Sicherheit gebracht werden. Sie bildeten den Grundstock für den Neuaufbau des britischen Expeditionskorps sowie für eine französische Exilarmee unter General Charles de Gaulle, die nach der alliierten Invasion in der Normandie am 6. Juni 1944 entscheidenden Anteil an der Rückeroberung Frankreichs haben sollten. (Xaver Warncke)

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(Foto: britische Soldaten warten auf ihre Evakuierung in Dünkirchen)

4 Kommentare

  1. Heiko sagt:

    Mein Opa war der Leidtragende dieser idiotischen Entscheidung gewesen, im Rommel-Regiment hatte der Afrika-Corps mit diesen Tomies dann seine Probleme ! Die feigen Italiener trauten sich ja nicht raus !Alleine der Deutsche kämpfe !

  2. Cerberus sagt:

    Letztlich wurde der Krieg in Dünkirchen und nicht in Stalingrad verloren.
    Ohne ein Dünkirchen wäre es auch nicht zu Staligrad gekommen.
    Ein weiterer Fehler war, den aufgeblasenen Pfau aus Italien zu unterstützen in Afrika und in Griechenland.
    Die Monate fehlten dann zeitlich und der Winter 41/42 mit seinen Verlusten war die Folge.

  3. Csongor (Ungarn) sagt:

    Es war allerdings ein großer Fehler. Wenn die Wehrmacht die Alliierten bei Dünkirchen vernichten hätten, ist es sicher, daß sie nicht in der Lage gewesen wären, einen Gegenangriff in der Normandie zu führen. Und das Wichtigste: im Fall Barbarossa „die im Westen siegreichen deutschen Kräfte gegen die Sowjetunion hätten konzentriert werden können.” Meiner Meinung nach, dieser Halte-Befehl, Mussolinis Balkanfeldzug und Hitlers Befehl, daß die Wehrmacht vor dem weiteren Vorstoß nach Moskau, Ukraine besetzen mußten, waren die größte Fehler unserer Seite. Große Schade.

  4. peter sagt:

    Dunkirk was Mercy

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