Brüssel/Berlin. In Europa gärt es. Davon können sich in diesen Wochen selbst Zuschauer der weitgehend gleichgeschalteten etablierten Medien überzeugen – sogar dort kann die Realität nicht mehr komplett unter den Teppich gekehrt werden.
Massenproteste sind in Europa durchaus keine Seltenheit. Allerdings kennt man sie bislang eher aus ohnehin krisengeschüttelten Ländern wie etwa Griechenland, Italien, Frankreich oder Spanien. Doch jetzt breitet sich der Unmut aus: Die anhaltenden Sparmaßnahmen der Regierungen quer über den Kontinent sorgen dafür, daß selbst die wohlhabenderen und stabileren Länder immer öfter mit Bürgerprotesten und Demonstrationen überzogen werden.
In Brüssel, also mitten im Zentrum der EU, demonstrierten erst kürzlich über 100.000 Menschen gegen die Sparpläne der Regierung. In Irland protestierten Zehntausende gegen Wassergebühren. Und selbst in der Bundesrepublik Deutschland und in Österreich finden jeden Montag Friedensmahnwachen statt – und seit kurzem die sehr beachtlichen Demonstrationen der „Hooligans gegen Salafisten“ (HoGeSa) sowie der ähnlich gelagerten „Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ (PEGIDA) in Dresden.
Die längst alltäglich gewordenen Protestmärsche in Griechenland, Italien, Frankreich oder Spanien fallen schon gar nicht mehr auf. Kurz und gut: An allen Ecken und Enden des Kontinents fangen die Menschen an, ihren Unmut auf die Straßen zu tragen. Es reicht. Immer mehr Bürger fühlen sich von der Politik im Stich gelassen.
Gründe für den Protest gibt es inzwischen übergenug. Ob es sich um die Wirtschafts- und Sozialpolitik handelt, die Außenpolitik, den Umgang der Politik mit dem Flüchtlingsproblem, die mangelnde Unterstützung für die Kurden in Kobane oder um die Salafistenszene in Deutschland – offenbar haben alle politischen Milieus inzwischen Gründe genug, um auf die Straße zu gehen, nach dem Motto: Wenn Wählengehen schon nichts an der Lage ändert, dann vielleicht der offene Protest.
Noch versucht das offizielle Europa abzuwiegeln oder mit kosmetischen Maßnahmen Betriebsamkeit zu suggerieren – etwa mit einer Untersuchung gegen den neuen EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker, der als luxemburgischer Ministerpräsident höchstselbst dafür Verantwortung getragen haben soll, daß Luxemburg zur europäischen Steueroase Nummer eins werden konnte. Doch solche Reparaturmaßnahmen, die meist nicht ans Essentielle heranreichen, verfangen nicht mehr. Das Knarren im europäischen Gebälk wird lauter. Die täglichen Zumutungen von seiten der Politik werden zunehmend kritisch betrachtet. Die Schulden- und Finanzkrise, die Europa nunmehr schon seit fast sieben Jahren beutelt und sich jetzt mit Vehemenz wieder auf der Tagesordnung zurückmeldet, kam ja nicht von ungefähr. Es waren Politiker und Banker, die ganz konkret am Desaster schuldig waren.
Das Spiel, das jahrzehntelang gut ging, läuft darauf hinaus, daß im großen und ganzen immer alles beim alten bleibt und der tonangebende Machtapparat hinter den Kulissen über alle Regierungswechsel hinweg unangetastet bleibt.
Wenn nicht alles täuscht, scheint der europäische Souverän das Spiel jetzt endlich zu durchschauen – und in Frage zu stellen. Die Desinformationskampagnen der Massenmedien beginnen immer öfter ins Leere zu laufen. Irgendwann bricht das Kartenhaus in sich zusammen, und die Unzufriedenen übernehmen das Kommando. Gerade die Deutschen kennen dieses Szenario gut – erst dieser Tage wurde an den 25. Jahrestag des Mauerfalls erinnert. Steht uns demnächst eine Neuauflage bevor?
Das bleibt eine spannende Frage. Niemand kann voraussagen, wie sich die Dinge entwickeln, wenn der Geist der Rebellion erst einmal aus der Flasche ist. Möglicherweise steht uns ein heißer Winter bevor. (ds)