Vor Präsidentschaftswahlen: Europa entdeckt „Kasachstan 2.0“ – Das zentralasiatische Land als eurasische Drehscheibe

28. Mai 2019
Vor Präsidentschaftswahlen: Europa entdeckt „Kasachstan 2.0“ – Das zentralasiatische Land als eurasische Drehscheibe
International
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Foto: Symbolbild

Bereits in wenigen Jahren sollen die Hightech-Waren aus Kasachstan entlang der „neuen Seidenstraße“ von Lianyungang nach Rotterdam in die Europäische Union exportiert werden. Am 9. Juni wählt das Land einen neuen Staatspräsidenten – alle wollen das zentralasiatische Land als eurasische Drehscheibe etablieren.

3D — so lautet der Name einer neuen globalen Initiative, die der ehemalige kasachische Staatspräsident Nursultan Nazarbajew auf dem internationalen Forum „Belt and Road“ am 27. April in Peking vorgestellt hat. 3D steht hierbei für drei Dialoge: zur Verbesserung der interregionalen Wettbewerbsfähigkeit und zur Cyber- sowie Kommunikationssicherheit. „Kasachstan liegt im Herzen unseres riesigen Kontinents und wird sich stets für eine engere Partnerschaft in Eurasien einsetzen. Unsere außenpolitische Doktrin zielt auf multilaterale Zusammenarbeit und gemeinsame Entwicklung, Vertrauensbildung und Sicherheit ab“, so Nasarbajew in Peking.

In seiner Rede bekräftigte Nasarbajew sein Engagement für die politische und wirtschaftliche Integration seines Landes in den eurasischen Wirtschaftsraum, die dieser Politiker stets in die Praxis umgesetzt hat. Unter der Führung von Nursultan Nasarbajew wurde Kasachstan drei Jahrzehnte lang zudem zu einem Beispiel für Entmilitarisierung: Während sich alle Nachbarstaaten schnell bewaffneten, schlossen die Kasachen ihr Atomtestgelände in Semipalatinsk, zerstörten ihr Atomwaffenarsenal und beseitigten ihre militärische Infrastruktur.

Dies sicherte die internationale Anerkennung Kasachstans und garantierte Souveränität und territoriale Integrität. Auch die Erfahrung Kasachstans als Vermittler ist groß: 2013 wurden in Kasachstan auf Initiative von Nasarbajew Verhandlungen über die Ausarbeitung des sogenannten „Gemeinsamen Umfassenden Aktionsplans zur Atomsicherheit“ (JCPoA) zwischen dem Iran und den fünf ständigen Mitgliedern im UN-Sicherheitsrat im Jahr 2013 geführt. Ab 2017 fanden in Kasachstan die Gespräche für eine syrische Friedensregelung statt.

Nicht nur Nasarbajew, sondern auch Kasym-Žomart Tokajew, der seit vielen Jahren die kasachische Außenpolitik auch in Europa verkörperte, leistet einen wesentlichen Beitrag zur internationalen Anerkennung Kasachstans. Von 2011 bis 2013 arbeitete er im UN-Büro in Genf und leitete die Abrüstungskonferenz. Tokajew spricht fließend Kasachisch, Russisch, Englisch und Chinesisch.

Bei der Präsidentenwahl äußerte er sich als Kandidat der Regierungspartei „Nur Otan“ mehr zur Außen- als zur Innenpolitik. In seinem Wahlprogramm geht er allerdings auch auf die sozialen Probleme des Landes ein. Das Leben in armen ländlichen Gebieten unterscheidet sich dramatisch vom Leben in Großstädten.

Sieben Kandidaten nehmen am Präsidentenwahlkampf teil: mehr als je zuvor in der Geschichte Kasachstans. Als Vertreter verschiedener Parteien und sozialer Bewegungen schlugen die Kandidaten für den kasachischen Präsidenten verschiedene Szenarien für weitere Reformen vor, die für die Entwicklung des Staates notwendig sind. Beobachter sind sich darüber einig, daß dies die fairsten Wahlen seien, die jemals in Kasachstan stattfanden.

Dania Espaewa ist eine Kandidatin der Partei Ak Žol und die erste Frau, die in Kasachstan für die Präsidentschaft kandidiert. In Kasachstan stellen Frauen mittlerweile ein Viertel der Abgeordneten, was mit Deutschland (30 Prozent) vergleichbar ist und deutlich über dem Schnitt in den USA (24%) liegt.

Der 54jährige Wirtschaftswissenschaftler Toleutaj Rachimbekow wurde von der Auyl-Partei als Kandidat für die Präsidentschaft aufgestellt. Er verfügt über langjährige Erfahrung im öffentlichen Dienst (insbesondere als stellvertretender Landwirtschaftsminister). Im April hat er die Leitung des Nationales Zentrums für landwirtschaftliche Forschung und Lehre, zu dem drei Universitäten und 23 Forschungsinstitute gehören, übernommen.

Der Oppositionspolitiker Amiržan Kosanow wurde von der Bewegung „Ult Tagdyry“ als Kandidat aufgestellt. Er drängt auf grundlegende Reformen des Staates, einschließlich auf Verfassungsreformen (Stärkung der Befugnisse des Parlaments) und auf Parteireformen (Vereinfachung der Registrierung von Parteien und ihrer Teilnahme an Parlamentswahl). Während seine anderen Oppositionskollegen einen Boykott der Präsidentenwahl ankündigten, sagte Kosanow auf einer Pressekonferenz, daß er solche Taktik ablehnte: „Wir glauben, daß die Stimme des Volkes, die pluralistische Stimme, die Stimme der Gerechtigkeit gehört werden sollte. Deshalb sind wir bereit, den Kampf anzutreten!“

Sadybek Tugel ist ein von der Bewegung „Adler der Großen Steppe“ als Kandidat aufgestellter Publizist. Er leitete das Internationale Pressezentrum von Astana. „Unser Kasachstan ist ein Land, das reich an Bodenschätzen ist, und niemand in Kasachstan sollte in Not sein! Jeder sollte Subventionen aus der Untergrundnutzung erhalten, mit Wohnraum versorgt werden und kostenlose Hochschulbildung und medizinische Versorgung erhalten“, sagte Tugel.

Amangeldy Taspichow wurde von der Föderation der Gewerkschaften Kasachstans als Kandidat aufgestellt (er ist Vorsitzender des Territorialverbandes der Gewerkschaften der Region Westkasachstan). Er macht auf die Probleme der Arbeitslosigkeit, der Lohnungleichheit und der Unsicherheit der Arbeitsbedingungen der Arbeiter und Angestellten aufmerksam. Ihm zufolge ist es in Kasachstan notwendig, günstige Bedingungen für Auslandsinvestitionen zu schaffen und die Wirtschaft zu diversifizieren (heute ist ihre Grundlage die Landwirtschaft und die Rohstoffe, vor allem Erdgas und Erdöl).

Žambyl Achmetbekow wurde von der Kommunistischen Volkspartei Kasachstans als Kandidat aufgestellt. Kommunisten sitzen seit 2012 im Parlament (nachdem die Kommunistische Partei, die mit der Volkspartei konkurriert, verboten wurde). Achmetbekow unterstützt die wirtschaftliche Integration mit den Nachbarländern, insbesondere innerhalb der Eurasischen Wirtschaftsunion (EEU) und der Shanghai Cooperation Organisation (SCO). Achmetbekow erklärte den Kampf gegen die Armut zu einer Priorität und forderte die Schaffung eines fairen Steuersystems (einschließlich einer Luxussteuer).

Nicht nur im postsowjetischen Raum richtet sich die Aufmerksamkeit auf die Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen in Kasachstan, sondern auch in Peking, Brüssel und Washington. Denn wenn sich Kasachstan in der Weltpolitik als Dialogplattform versteht, spielt es in der Weltwirtschaft eine Schlüsselrolle bei der Initiative des ambitionierten Seidenstraßenprojekts.

Auf dieser Route können Industriegüter von Lianyungang am Gelben Meer auf dem Landweg über Kasachstan, Rußland, Weißrußland und Deutschland nach Rotterdam transportiert werden – innerhalb von nur zehn Tagen. Aufgrund dieser hohen Liefergeschwindigkeit ist die Landroute für Lieferanten von Industrie- und Elektronikprodukten von besonderem Interesse. Dank dieser Landroute ist es zudem möglich, im Vergleich zu den schnelleren, aber teuren Lufttransporten Logistikkosten einzusparen. Darüber hinaus will Kasachstan nicht nur ein Verkehrsknotenpunkt für Hightech-Güter sein — der Beitritt zur globalen „Hauptbahnlinie“ wird Impulse für die neue Industrialisierung geben.

Noch ist nicht klar, wer die Präsidentenwahlen gewinnen wird, Experten rechnen aber mit einem Wahlsieg von Nasarbajews Schützling Kassym-Žomart Tokajew. Er hat starke und erfahrene Gegner, die es geschafft haben, die Unterstützung eines großen Teils der Wähler zu bekommen. Doch eben gerade das gehört zur Demokratie.

Ulrich Götz

Aufmacherbild: Kasym-Žomart Tokajew gilt als aussichtsreicher Kandidat für die die kasachischen Präsidentschaftswahlen Anfang Juni

 

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