Es gibt ein verbreitetes Klischee über die deutsche Zeitgeschichte vor 1945. Sinngemäß lautet es: Wir wissen alles. Eine Diskussion über Einzelheiten und Grundsatzfragen kann es für das Jahr 1939 und die Verantwortung für den Kriegsausbruch nicht geben. Schließlich gibt es ja Schlüsseldokumente, in denen alles nachzulesen steht. Soweit die Lage, bestätigt durch prominente Zeugen.
Großbritanniens Kriegspremier Winston Churchill hat sich zum Beispiel mit Eifer daran beteiligt, diesen Eindruck zu erwecken, etwa in seinen Memoiren, wo es heißt: „In der Neuzeit haben Staaten, die im Krieg unterlagen, meistens ihre Struktur, ihre Identität und ihr Archivgeheimnis bewahrt. Diesmal, da der Krieg bis zum letzten Ende geführt wurde, sind wir in den vollen Besitz der inneren Geschichte der Feinde gelangt. Infolgedessen können wir unsere eigenen Informationen und Leistungen ziemlich genau nachprüfen.“
Churchills angebliche Prüfung seiner Informationen richtet sich dann an gleicher Stelle auf die Hoßbach-Niederschrift. Wer sich jemals intensiver mit der Vorgeschichte des Zweiten Weltkriegs befaßt hat, der kennt sie: Ein Protokoll soll sie sein. Aufzeichnung dessen, was am 5. November 1937 bei einem vom deutschen Diktator einberufenen Treffen gesagt wurde. 1945 wurde sie im Nürnberger Prozeß auf den Tisch der Anklage gegen die Überlebenden der deutschen Staatsführung gelegt, als Beweis für deutsche Kriegspläne seit 1937. Was den Inhalt des sogenannten Protokolls anging, fand Churchill starke Worte: „Am 5. November 1937 entwickelte er [d.h. Hitler, d. Verf.] seine Zukunftsabsichten vor den Befehlshabern seiner Streitkräfte. Deutschland brauchte mehr ‚Lebensraum‘. Dieser ließ sich am besten in Osteuropa finden – in Polen, Weißrußland und der Ukraine. Dieses Ziel erforderte einen großen Krieg und nebenbei die Ausrottung der in jenen Gebieten lebenden Bevölkerung.“
Nun, bedauerlicherweise stellt jede dieser Behauptungen eine Unwahrheit dar. In der Hoßbach-Niederschrift über die Konferenz des 5. November 1937 findet sich kein Wort über die Eroberung von deutschem Lebensraum in Polen, Weißrußland oder der Ukraine, daher auch nichts über einen dafür erforderlichen großen Krieg und schon gar nichts über die Ausrottung der dortigen Bevölkerung. Es heißt darin statt dessen, der deutsche Lebensraum sei für ein bis drei Generationen durch Erwerb von Österreich und Böhmen-Mähren zu sichern.
Das wollten auch andere Prominente später nicht wahrhaben. Der einflußreichste Hitler-Biograph der Nachkriegszeit, Joachim Fest, schrieb in diesem Zusammenhang davon, es sei am 5. November der „Aufbau eines räumlich geschlossenen großen Weltreichs“ angekündigt worden. Henry Kissingers vielgelesene Abhandlung über die internationale Diplomatie als „Vernunft der Nationen“ blies in ebendieses Horn und erklärte, es sei damals „die Eroberung weiter Landstriche in Osteuropa und der Sowjetunion zum Zwecke der Kolonisation“ proklamiert worden. Diese Liste an Fehlmeldungen ließe sich umfassend erweitern.
Die „Hoßbach-Konferenz“, wenn man ihr diesen Namen geben will, ist nun 80 Jahre her und weit, weit weg. Für das historische Bewußtsein ist sie das sogar noch weiter, als die bloße Zahl der Jahre vermuten lassen würde. Sie entstammt einem anderen Zeitalter.
Was die Gruppe der Geschichtswissenschaftler angeht, die in diesem Zusammenhang „historisch-kritische“ Fragen stellen, so ist sie heutzutage eher überschaubar, sie war es im übrigen zu jedem Zeitpunkt. Allerdings gab es Fälschungsdiskussionen, als „die Kopie einer Abschrift“ der Hoßbach-Niederschrift im Nürnberger Prozeß auftauchte. Hoßbach selbst hatte den Krieg überlebt und konnte befragt werden. Er erkannte den Text sinngemäß als seinen eigenen an, wollte aber für den genauen Wortlaut nicht einstehen und erklärte, Teile des Dokuments seien in jedem Fall nicht von ihm. Ähnlich äußerten sich auch andere, etwa der Angeklagte Göring und Hitlers Adjutant Nicolaus von Below, dem Hoßbach das Original 1937 gezeigt hatte.
Dabei blieb es. Die Hoßbach-Niederschrift scheint damit zugleich verfälscht und im Grundsatz korrekt zu sein. Was die Öffentlichkeit angeht, so sonnt sie sich ohnehin im eingangs angesprochenen Eindruck des selbstverständlichen Allgemeinwissens. Was so viele prominente Personen so scharf zugespitzt behauptet haben, das kann doch eigentlich nicht falsch sein, sagt sich der gesunde Menschenverstand. Nun, immer wieder ist es das leider doch. Das ist dann nun wieder eine zeitlose Angelegenheit.
Dr. Stefan Scheil ist Historiker und Publizist.
Diese Kolumne ist in der seit heute am Kiosk und im Buchhandel erhältlichen Januar-Ausgabe des Deutschen Nachrichtenmagazins ZUERST! erschienen.
Vorkriegsgeschichte
https://www.vorkriegsgeschichte.de
Hier gibt’s Dokumente aus dem Jahr 1932.
Schon damals wollte der polnische Außenminister Beck den Krieg:
Hab versucht den link reinzusetzen, klappt aber nicht.
Selber suchen bei heimatrecht.wordpress
Die Darstellung der deutschen Geschichte ist seit Jahrzehnten in einem riesigen Betonbunker fest umklammert, so erscheint es allerorten. Der
geistige Status Quo ist offenbar für die Ewigkeit konstruiert.
Nur manchmal, da flammt etwas auf, da sickert etwas durch. Bekannt ist vieles nicht, und bekanntgemacht wird noch weniger.
Herr Dr. Scheil beweist Mut, Schlüsseldokumente zum Kriegsausbruch von 1939
wissenschaftlich zu thematisieren.
Und es gibt viele Themen, zumal Kopfschütteln oder Ungewissheit bleibt. So gibt es noch Millionen von Haushalte in denen Lexikas früherer Zeit stehen, die die traurige Zahl der Dresden-Toten mit 300.000 Menschen beziffert. Mittlerweile wird vorgegeben, es seien 30.000 Menschen. Eine Kommission habe dies festgestellt. Wurde eine Null vergessen, sind es damalige Propaganda-zahlen, hat man nur Dresdner Menschen gezählt, die vielen beim Bombenterror dort anwesenden Heimatvertriebenden übersehen ? Hat man gezählt oder vielleicht selektiv definiert ? Hat man differenziert zwischen Toten vom 13.2 und den Toten der am 14.2. erfolgten Nachbombadierung ?
Das alles ist schon seit Jahrzehnten bekannt.