Im Windschatten der „Schlafwandler“ von Christopher Clark erscheinen zum 100. Jahrestag des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges immer mehr historische Werke, die für eine Revision des bei uns herrschenden Geschichtsbildes sorgen.
Der in Istanbul lehrende US-Amerikaner McMeekin untersucht in seiner brillanten Studie die russische Außenpolitik vor 1914. Für seine Neugewichtung von Rußlands Rolle bei der Auslösung des Krieges durchkämmte er jahrelang Archive, studierte Schlachtpläne und beleuchtete die hinter den Kulissen abgelaufenen diplomatischen Intrigen. Sein Ergebnis: Die wahren Drahtzieher für den Krieg saßen in St. Petersburg. Die zaristische Politik strebte nach Vernichtung Österreich-Ungarns als dem Kontrahenten auf dem Balkan, der einer Expansion in Richtung auf die türkischen Meerengen im Wege war. Wohlwissend, daß Berlin eng an der Seite Wiens stand, versicherte sich das Zarenreich der Unterstützung Frankreichs, das in Erinnerung an die Niederlage von 1871 auf Rache sann. Der Autor zeigt, daß in diesem Konflikt kein Land mehr gewinnen konnte als Rußland. Es ist sein Verdienst, den Fokus der Betrachtung vom Zentrum Europas (Berlin, Wien) weg an den Rand (St. Petersburg) verlegt zu haben, denn trotz aller Aktenpublikationen der Bolschewiki nach 1918 wissen wir heute relativ wenig über Vorhaben und Handeln der russischen Politiker. Nur wenige Forscher haben dieses – übrigens in den 1920er Jahren auch ins Deutsche übersetzte – Material überhaupt ausgewertet. Die Initiative Rußlands zur Zerschlagung des Osmanischen Reiches wird so völlig ausgeblendet. Das Russische Reich spielte keine passive Rolle, wie Fritz Fischer und seine Apologeten meinen. Mittlerweile ist unstrittig, daß mit der Auslösung der geheimgehaltenen russischen Mobilmachung am 25. Juli 1914 der Krieg unvermeidlich geworden war. (oh)
Sean McMeekin. Rußlands Weg in den Krieg: Der Erste Weltkrieg – Ursprung der Jahrhundertkatastrophe. 448 S., geb., € 29,99. Berlin: Europa Verlag, 2014.
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