Am 16. Juli kündigte sich im Münchener Prozeß gegen mutmaßliche Mitglieder und Unterstützer des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU) eine Wende an. Beate Zschäpe, die Hauptangeklagte, übermittelte mitten in einer Zeugenbefragung dem Vorsitzenden Richter Manfred Götzl einen Zettel mit einer Botschaft: Sie habe das Vertrauen in ihre Anwälte verloren. Götzl blieb damit gar nichts anderes übrig, als den Prozeß zunächst einmal auszusetzen. Er gab Zschäpe eine kurze Frist, ihre Entscheidung schriftlich zu begründen. Dann solle entschieden werden, wie es weitergeht. Bei den Medien schossen die Spekulationen ins Kraut. Was hat Zschäpe und ihre Verteidiger, deren „martialische“ Namen Sturm, Stahl und Heer immer wieder besonders betont wurden, entzweit? Wolle sie jetzt doch aussagen? Muß der Prozeß abgebrochen und neu aufgerollt werden?
Nur sechs Tage später hatte sich das Rascheln im Blätterwald wieder beruhigt. Richter Götzl fand nämlich Zschäpes Stellungnahme nicht überzeugend und setzte die Beweisaufnahme am 22. Juli um die Mittagszeit fort. Damit war allerdings noch nicht geklärt, was zu dem Zerwürfnis geführt hatte. Der Schriftsatz wurde nicht veröffentlicht. Dennoch will die Welt erfahren haben: Zschäpe war „nicht einverstanden mit der Art und Weise, wie ihre Verteidiger den Zeugen Tino Brandt befragten“. Jener Tino Brandt gilt als einer der interessantesten Zeugen des Verfahrens, seine Vernehmung war bereits im Frühjahr geplant, scheiterte jedoch an einer angeblichen Krankheit. Nun, im Juli, waren für den 39jährigen gleich drei Verhandlungstage reserviert. Vorgeführt wurde der Zeuge in Handschellen aus der Untersuchungshaft. Er war erst einige Wochen zuvor wegen des Verdachts des Kindesmißbrauchs und der Zuhälterei verhaftet worden, auch wegen bandenmäßigen Versicherungsbetrugs wird seit längerem gegen ihn ermittelt.
Seine besondere Rolle im NSU-Prozeß erklärt sich damit, daß der 1975 in Rudolstadt geborene Tino Brandt in den 1990er Jahren die treibende Kraft beim Aufbau „rechtsextremistischer“ Strukturen in Ostthüringen war. Er sammelte die Unzufriedenen ein, veranstaltete Mittwochs-Stammtische und entwickelte daraus die „Anti-Antifa Ostthüringen“. Aus dieser wiederum ging später der Thüringer Heimatschutz (THS) hervor, jenes Umfeld, in dem sich auch Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe bewegten, bevor sie nach ihrem Untertauchen Anfang 1998 als NSU mordend und raubend durch die Lande gezogen sein sollen. Brandt führte jedoch ein Doppelleben. Von 1994 an bis zu seiner Enttarnung im Mai 2001 galt er als die Top-Quelle des Landesamtes für Verfassungsschutz Thüringen in der rechten Szene. „Otto“ bzw. „Oskar“ waren seine Decknamen bei den Erfurter Schlapphüten.
Vor diesem Hintergrund ist es schon merkwürdig, daß sowohl der Untersuchungsausschuß des Bundestages wie auch jener des Thüringer Landtags auf eine Aussage Brandts verzichteten. Vernommen wurde der frühere V-Mann dagegen 2012 vom Bundeskriminalamt, aber auch von dem früheren Bundesrichter Gerhard Schäfer für dessen „Gutachten zum Verhalten der Thüringer Behörden und Staatsanwaltschaften bei der Verfolgung des Zwickauer Trios“. Laut Gutachten habe Brandt „viele wichtige Informationen geliefert“ und „sei zuverlässig gewesen“. „Er war unheimlich kooperativ“, zitierte die Abendzeitung München die Aussage eines V-Mann-Führers Brandts während eines früheren Prozeßtages. Ein anderer Beamter erwähnte den „Verräterkomplex“ des Spitzels. „Den haben wir ihm versüßt, indem wir ihn gut bezahlt haben“, so der Zeuge laut Abendzeitung.
Dieser „Komplex“ schien Brandt aber erst im Nachhinein so richtig belastet zu haben. Am 127. Verhandlungstag des NSU-Prozesses bezeichnete er sein Wirken für den Verfassungsschutz als Fehler, der ihn seine Freunde, seine Arbeit, sein ganzes früheres Leben gekostet habe. Kurz nach dem Untertauchen des Trios habe er begonnen, bei Stammtischen und einem Konzert Geld zu sammeln und an die Untergetauchten weiterzuleiten, erzählte er dem Gericht. Das war noch keine Neuigkeit. Schlagzeilen wert war dann allerdings die Aussage, daß es vom Amt auch direkt Geld für Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe gegeben habe. Wie hoch die Beträge waren und an wen er sie weitergeleitet habe, das wisse er nicht mehr. Ob das Geld ausdrücklich für die Weitergabe an die drei bestimmt war, wollte Richter Götzl wissen. Brandts Antwort: „Soweit ich mich erinnere, war das direkt für die Weitergabe.“ Bestimmt gewesen sei das Geld für „Pässe“ (Süddeutsche Zeitung) bzw. die „Ausreise“ (taz).
Sein eigenes Salär für die wertvollen Informationen, die laut Brandt niemandem geschadet haben und die der Verfassungsschutz größtenteils auch auf anderem Wege hätte sammeln können, wurde bisher zumeist mit 200.000 Mark beziffert – binnen seines siebenjährigen Wirkens. Auch diese Frage interessierte den Vorsitzenden. Wieviel Agentenlohn hat Top-Quelle Brandt kassiert? „140.000 Euro?“ so Götzl laut Spiegel Online. „Kann sein“, meinte der Zeuge, er habe kein Kassenbuch geführt. Angesichts dieser finanziellen Dimensionen verwundert es, daß das Amt seinen besten Mann nicht gezielt auf das Aufspüren des Trios angesetzt haben soll. Brandt bestritt in München einen solchen Auftrag. Laut Aussage eines seiner früheren V-Mann-Führer wurde das Auto Brandts jedoch „mit Verfolgungstechnik des BKA ausgerüstet“, so die Abendzeitung München. Und es sei ihm gelungen, einem Kameraden „das Auto unterzujubeln“. Der Betreffende schöpfte jedoch Verdacht, und aus der Aktion wurde nichts.
Das hört sich nicht so an, als ob Brandt ohne sein Wissen instrumentalisiert wurde. Und überhaupt: Seine V-Mann-Tätigkeit hatte ja nicht nur finanzielle Vorteile, sondern das Thüringer Landesamt für Verfassungsschutz hielt auch sonst seine schützende Hand über seinen Top-Informanten. Im Laufe seiner politischen Tätigkeit wurden gegen Brandt 35 Ermittlungsverfahren eröffnet: unter anderem wegen Volksverhetzung, Landfriedensbruches, Sachbeschädigung, Betrugs, Widerstands gegen Polizisten, Verstoßes gegen das Waffengesetz, Bildung einer krimineller Vereinigung. Ergebnis: 27 Mal wurde keine Anklage erhoben, siebenmal wurde das Verfahren eingestellt, und einmal gab es nach einer Verurteilung in der Berufungsinstanz einen Freispruch. Justitia muß damals sehr viel Zuneigung zu dem gelernten Einzelhandelskaufmann empfunden haben.
Im Prozeß behauptete Brandt auch, vor Hausdurchsuchungen und Razzien gewarnt worden zu sein, was der Thüringer Verfassungsschutz nachdrücklich bestreitet. Im bereits erwähnten Schäfer-Gutachten wird Brandts Aussage dagegen unterstützt: „Die Beamten haben uns das sehr plastisch geschildert: Sie kamen hin mit dem Durchsuchungsbeschluß, Tino Brandt empfing sie grinsend und sagte: Hier findet ihr nichts. Tino Brandt hat ganz offen eingeräumt, vier- bis fünfmal sei er vom Verfassungsschutz vor solchen Durchsuchungen gewarnt worden.“ Offensichtlich die Wahrheit. Seit Mitte der 1990er Jahre arbeitete Brandt – da war er schon V-Mann – für den rechten Nation Europa-Verlag in Coburg, hatte in der oberfränkischen Residenzstadt auch einen Wohnsitz. Von einem damaligen Weggefährten Brandts erfuhr ZUERST!: „Der wußte, wann eine Hausdurchsuchung ansteht. Einen Tag vorher hat er dann seinen Rechner in einem Schließfach im Bahnhof versteckt und in der Wohnung einen alten Computer deponiert, auf dem nichts Belastendes zu finden war. Den hat die Polizei dann mitgenommen.“
Auch der Thüringer NSU-Untersuchungsausschuß will angesichts einer Fülle verstörender Fakten nicht mehr von „Pannen“ oder „Fehlern“ sprechen. Wie aus seinem Mitte August vorgestellten Abschlußbericht hervorgeht, sieht er eine „Begünstigung“ rechtsextremer Strukturen durch den Thüringer Verfassungsschutz und nennt dazu konkret das Beispiel Tino Brandt. Was die Fahndung nach dem untergetauchten Trio anbelangt, spricht der Ausschuß vom „Verdacht gezielter Sabotage“.
Quasi-Immunität und üppige finanzielle Versorgung, das verpflichtet wohl auch noch Jahre später zu Dankbarkeit. Und so schimpfte Brandt dann auch nicht auf den Verfassungsschutz, sondern belastete das Trio. „Ideologisch gefestigt“, „hundertprozentig überzeugt“ vom Nationalsozialismus seien die drei aus Jena gewesen. „Die Jenaer brauchten keine weltanschauliche Schulung.“ Speziell über Beate Zschäpe äußerte Brandt, sie sei „keine dumme Hausfrau“ gewesen, sondern hätte sich in juristischen Fragen ebenso kundig gezeigt wie beim Thema Germanentum. Schon an diesem Tag muß Zschäpe innerlich gekocht haben. Nebenklage-Anwalt Alexander Hoffmann äußerte gegenüber der taz die Vermutung: „Sicherlich hätte Zschäpe erwartet, daß ihre Verteidigung diesem Zeugen über den Mund fährt, ihn und den Verfassungsschutz angreift, bloßstellt.“ Statt dessen habe Brandt sie und die toten Uwes belastet, ohne daß ihre Verteidiger angemessen einschritten.
Nach Überzeugung des Anwalts war es jedoch gerade Tino Brandt, der die Szene radikalisierte, und zwar „im Auftrag und mit dem Geld des Verfassungsschutzes“, so Hoffmann gegenüber der taz. Vor Gericht wies der Zeuge jede Nähe zur Gewalt zurück. Mit Waffen habe er nichts zu tun gehabt. „Wenn wir etwas verändern wollten, dann politisch und nicht mit Gewalt“, zitiert die Stuttgarter Zeitung eine Aussage des Ex-V-Mannes. „Gewaltdiskussionen gab es bei uns nicht.“ Das Blatt nimmt Brandt die Tour nicht ab, nennt ihn spöttisch den „Gandhi von Rudolstadt“. Vor einem Jahr hatte nämlich ein BKA-Hauptkommissar vor Gericht von seiner Vernehmung des Mitangeklagten Holger G. berichtet. Der hätte dabei von Gesprächen zwischen Brandt und dem Trio erzählt, die „den Einsatz von Gewalt im Kampf gegen das System“ zum Inhalt hatten. Ehemalige Kameraden Brandts hätten der Stuttgarter Zeitung außerdem verraten, der V-Mann habe sie ermuntert, „im Untergrund kleine Zellen zu bilden“.
Am zweiten Tag seiner Aussage im Münchener Prozeß erzählte Brandt, nach dem Untertauchen der drei Jenaer hätte sich ihr Umfeld bemüht, sie in die Legalität zurückzuholen. Laut n-tv.de sagte Brandt, es habe „Gespräche über eine mögliche Flucht nach Südafrika“ gegeben, etwa im Juni 1999. Er erinnere sich dunkel an das Ziel in einer „autonomen Burenrepublik“. An diesem Verhandlungstag platzte Beate Zschäpe der Kragen, da erklärte sie den Bruch mit ihrer Verteidigung. Vielleicht wußte die Angeklagte ja, was das Gericht nicht wußte und wonach niemand den Zeugen fragte, auch ihre Rechtsbeistände nicht, nämlich daß Tino Brandt in jenem Jahr 1999 selbst in Südafrika war. Zum 100. Jubiläum des Beginns des Zweiten Burenkrieges war eine siebzehnköpfige Reisegruppe aus mehreren deutschen Städten ans Kap aufgebrochen. Ihr Hauptziel war der Besuch der Gedenkfeier am Voortrekker-Denkmal in Pretoria am 9. Oktober 1999.
Mit dabei: V-Mann Tino Brandt. Die Gruppe war bereits zwei Tage zuvor in Südafrika gelandet, besuchte zunächst in Pretoria den aus Deutschland ausgewanderten Publizisten Claus Nordbruch, einen Tag später dann den mittlerweile verstorbenen Weltkriegs-Veteranen Heinz-Georg Wilhelm Migeod. Dieser hatte noch einen besonderen Programmpunkt anzubieten: den Besuch einer burischen Farmerschule in dem Örtchen Balmoral östlich von Johannesburg. Da viele weiße Farmer damals berechtigte Angst vor Überfällen schwarzer Mörderbanden haben mußten, wurde auf effektive Selbstverteidigung großen Wert gelegt. Auf dem Gelände der Schule gab es auch einen Schießstand. „Als Tino Brandt das hörte, war er sofort Feuer und Flamme“, so ein Reiseteilnehmer gegenüber ZUERST!. Tatsächlich absolvierten Brandt und einige andere aus der Gruppe den Besuch und nahmen vor Ort auch an Schießübungen teil. Dies wird auch durch Fotos belegt, die ZUERST! erstmals exklusiv veröffentlicht.
Damit ist erstens klar: Brandt brauchte keine Mittelsmänner, sondern verfügte über eigene qualifizierte Kontakte nach Südafrika sowie über persönliche Eindrücke von dem Land, an das er sich gewiß nicht nur „dunkel“ erinnern kann. Interessant in diesem Zusammenhang ist, daß die Adressen von Nordbruch und Migeod zu den vielen Fundstücken aus der ausgebrannten Zwickauer Wohnung des Trios gehörten. Zweitens: Den Bären der Gewaltlosigkeit, den der V-Mann dem Münchener Gericht aufbinden wollte, kann Tino Brandt behalten. Nebenklage-Anwalt Hoffmann und die Stuttgarter Zeitung lagen mit ihren Einschätzungen also nicht daneben. Drittens: Es ist nahezu ausgeschlossen, daß der Thüringer Verfassungsschutz von der Südafrika-Reise Brandts nichts wußte. Welche Schlüsse nun aus der Verbindung NSU/Verfassungsschutz/Südafrika/Waffentraining gezogen werden können, müßte eigentlich das Münchener Gericht klären. Doch die ursprünglich auf drei Tage angesetzte Vernehmung des Zeugen Tino Brandt wurde nach der Ablehnung des Zschäpe-Antrags nicht mehr fortgesetzt.
Dirk Reinartz