Karlsruhe/Berlin. Im Nachhinein ist man immer schlauer. Niemand hätte es 1945, im Augenblick der totalen Niederlage Deutschlands, für möglich gehalten, daß zehn Jahre später, 1955, bereits wieder deutsche Soldaten unter Waffen stehen würden.
Möglich war das nicht zuletzt deshalb, weil das Grundgesetz die Aufgaben der deutschen Streitkräfte ausdrücklich auf ihren Verteidigungsauftrag beschränkte. Auf dieser „Geschäftsgrundlage“ basierte Auftrag und Selbstverständnis der Bundeswehr fast ein halbes Jahrhundert lang. Hinzu kam, daß die anhaltende Bedrohung durch die Militärmacht des Ostblocks ohnehin jede Diskussion überflüssig machte: Die Westdeutschen waren mit der Bundeswehr ebenso fest in die NATO eingebunden wie die DDR mit ihrer Nationalen Volksarmee in das östliche Bündnis. Nur die wenigsten – einschließlich der tonangebenden Politiker wie etwa Helmut Kohl, der den Gedanken an eine Wiedervereinigung noch 1986 als „blühenden Unsinn“ abtat – mochten sich vorstellen, daß sich an dieser Rollenverteilung jemals wieder etwas ändern würde.
Doch dann, 1989/90 endete mit der Maueröffnung und der kleindeutschen Einheit jäh das Zeitalter der Blockkonfrontation. 1991 implodierte auch noch die Sowjetunion, und mit einem Mal mußte der Westen nicht mehr auf die Befindlichkeiten der östlichen Supermacht Rücksicht nehmen. Innerhalb weniger Jahre mutierte die NATO vom Verteidigungsbündnis zum verlängerten Arm Washingtons, der weltweit amerikanischen Interessen Nachdruck verlieh – immer häufi ger auch mit scharfem Schuß: erstmals 1991 im Irak.
Weil die weltweite Interventionspolitik Geld kostete und die USA nicht willens waren, sie allein zu schultern, wuchs in den neunziger Jahren der Druck auf die Verbündeten, sich an den gemeinsamen Lasten zu beteiligen. Engländer, Franzosen und andere Partner Washingtons, von jeher nicht zimperlich im Einsatz militärischer Mittel, hatten damit keine Probleme, die Kriegsverlierer Deutschland und Japan dagegen sehr wohl.
Unmerklich wurde in den Jahren nach der Wiedervereinigung das jahrzehntelange Credo der deutschen Nachkriegspolitik brüchig, daß „nie wieder“ Krieg von deutschem Boden ausgehen dürfe. Während die Welt nach dem Ende der Blockkonfrontation unübersichtlicher wurde und Jugoslawien in einer Folge blutiger Regionalkonflikte zerbrach, schrieben die transatlantischen Meinungsmacher in den Redaktionsstuben der „Welt“, bei „Spiegel“, „Bild“ und Co. die wachsende internationale „Verantwortung“ der Deutschen, ihre Verpflichtung für den Frieden in aller Welt förmlich herbei.
Aber noch immer stand das Grundgesetz dem Einsatz der Bundeswehr jenseits der deutschen Grenzen im Weg: kein Einsatz deutscher Soldaten außer zum Zweck der Landesverteidigung. Die Vorbehalte weiter Teile der Öffentlichkeit wurden schleichend und schrittweise untergraben. Zuerst taten nur Sanitäter und Minensucher der Bundeswehr den Schritt über die Grenzen, so etwa 1993 mit der Entsendung eines Feldlazaretts nach Phnom Penh im Rahmen einer UN-Mission und der Beteiligung von Minenabwehrkräften der Bundesmarine während des Golfkrieges.
Was folgte, war ein Lehrbeispiel für die vielbeschworene „normative Kraft des Faktischen“. Das Bundesverfassungsgericht erhielt den Auftrag, zu klären, ob und inwieweit Auslandseinsätze der Bundeswehr grundgesetzkonform seien – und natürlich apportierten die Karlsruher Richter und lieferten, was Kohl und Co. von ihnen erwarteten: ein berühmt gewordenes Urteil mit Datum vom 12. Juli 1994, das diese Frage rundheraus bejahte. Zur Beruhigung der allerletzten Nörgler verabschiedete der Bundestag viel später, 2005, noch das sogenannte Parlamentsbeteiligungsgesetz. Es legt fest, daß für den Einsatz deutscher Streitkräfte im Ausland der „Parlamentsvorbehalt“ gilt, also der Bundestag an einer Entscheidung beteiligt werden muß.
Doch mehr als eine Beruhigungspille für grundgesetztreue Bedenkenträger ist das nicht, und bekanntlich hat der Bundestag bisher noch jedem Auslandseinsatz der Bundeswehr zugestimmt – selbst die hochmoralischen (und sachlich meist richtigen) Verweigerungsappelle aus dem Munde Gregor Gysis, Sahra Wagenknechts und Hans-Christian Ströbeles sind inzwischen Geschichte. Die Bundeswehr ist längst rund um den Globus mit scharfem Schuß dabei – und künftig wohl noch mehr als bisher, wenn man den jüngsten Ankündigungen aus dem Munde von Bundespräsident Gauck Glauben schenken will. (ds)