Obwohl das Gladbecker Geiseldrama nach einem Banküberfall 30 Jahre her ist, sorgt es bis heute für Diskussionen über die Medien-Ethik.
Noch dreißig Jahre danach steht „Gladbeck“ für ein beispielloses Verbrechen, das sich dem kollektiven Gedächtnis eingebrannt hat. Nicht nur wegen der Brutalität der Tat, sondern auch, weil selten vorher und nachher ein Verbrechen durch die Medien so in Echtzeit übertragen worden ist wie das Verbrechen von Gladbeck.
Alles beginnt am frühen Morgen des 16. August 1988. Zwei Männer, Hans-Jürgen Rösner und Dieter Degowski, besteigen im nordrhein-westfälischen Gladbeck ein gestohlenes Motorrad. Beide kennen sich schon aus der Schule, sind vorbestraft, Rösner ist auf der Flucht vor der Polizei – zwei Jahre zuvor ist er während eines Hafturlaubs untergetaucht.
An diesem Dienstagmorgen liegt eine lange Nacht hinter den beiden. Sie haben durchgemacht und irgendwann einen folgenschweren Entschluß gefaßt: Sie wollen eine Bank überfallen, die Deutsche Bank im Einkaufszentrum Rentfort-Nord.
Es ist 7.45 Uhr, als Rösner und Degowski in den Schalterraum eindringen. Mit geladenen Schußwaffen bringen sie den Kassierer Reinhold Alles und die Kundenberaterin Andrea Blecker in ihre Gewalt. 120.000 Mark können sie zusammenraffen. Die Tat bleibt jedoch nicht unbeobachtet. In der Etage über der Bank hat der Arzt Ali Kemmuna seine Praxis. Auf dem Weg zur Arbeit fällt sein Blick eher zufällig durch die mit Sonnenlamellen verhängten Fenster in die Schalterhalle – er sieht, wie einer der Täter wie in einem billigen Krimi den Kassierer mit einer Pistole bedroht. Kemmuna stürmt in seine Praxis hinauf und ruft die Polizei an – Mobiltelefone sind damals noch die Ausnahme. Um 8.04 Uhr geht der Notruf bei der Gladbecker Polizei ein. Zwei Streifenwagen fahren los. Ab jetzt ist die Tragödie, die sich in der Bank in Rentfort abspielt, aktenkundig.
Sie ist, soviel wissen wir heute, auch eine Chronik des Polizeiversagens. Den ersten, kaum faßbaren Patzer leistet sich die Polizei, als die Beamten des ersten Wagens, der am Tatort eintrifft, diesen direkt vor der Bankfiliale parken. Rösner und Degowski bemerken die Polizisten, als sie gerade flüchten wollen. Jetzt wissen sie, daß sie in der Falle sitzen. Sie müssen handeln. Innerhalb weniger Minuten beschließen sie – was in dieser Konstellation naheliegend ist –, Andrea Blecker und Reinhold Alles als Geiseln zu nehmen. Wollen sie jetzt noch entkommen, geht es nicht ohne Erpressung.
Aber mit der raschen Flucht ist es jetzt erst einmal nichts mehr. Im Schalterraum der Bank nimmt ein Nervendrama seinen Anfang. Quälend langsam verrinnen die Stunden. Statt mit der Polizei kann Rösner kurz vor elf Uhr vormittags den Kontakt mit Reportern herstellen. In einem Telefongespräch fordert er „300.000 Mark in kleinen Scheinen von zehn bis hundert, einen BMW 7/35e, einen dunklen, zwei Paar Handschellen und freien Abzug. Wir nehmen die Geiseln nämlich mit.“
Wieder verstreichen Stunden. Irgendwann feuern die Geiselnehmer aus den Fenstern der Bank einige Warnschüsse ab. Daraufhin läßt die Polizei die umliegenden Gebäude räumen, besorgt aber das Lösegeld und ein Fluchtauto. Es ist allerdings kein dunkler BWM, wie von Rösner gefordert, sondern ein weißer Audi. Dann, gegen fünf Uhr nachmittags, geschieht etwas. Ein bis auf die Unterhose entkleideter Polizist legt die Geldpäckchen vor der Tür der Bank ab. Der Kassierer, dem die beiden Verbrecher eine Schlinge um den Hals gelegt haben, so daß er nicht fliehen kann, muß das Geld hereinholen. Am Abend schließlich wird auch der Fluchtwagen bereitgestellt, den die Beamten mit Peilsendern und Wanzen präpariert haben. Das Drama von Gladbeck dauert jetzt schon zwölf Stunden.
Es ist bereits dunkel, als Bewegung ins Spiel kommt. Gegen 21.30 Uhr kommen Rösner und Degowski mit den zwei Geiseln heraus. Jetzt zeigt sich das zutiefst Surreale der ganzen Situation: Vor der Tür warten ganze Trauben von Fernsehteams, Fotografen und Journalisten, die die Gangster und ihre Geiseln wie Stars erwarten und die sich abzeichnende Flucht dokumentieren wollen. Selten wurde ein Verbrechen so zum Medien-Event wie die Geiselnahme von Gladbeck. Ein Millionenpublikum ist an den Bildschirmen des Landes dabei, als die Kameras dem davonbrausenden weißen Audi hinterherfilmen.
Daß in diesen Momenten eine Irrfahrt beginnt, die ihresgleichen sucht, kann zu diesem Zeitpunkt noch niemand wissen. Doch schon bald findet das obszöne Live-Verbrechen seine Fortsetzung. Denn Rösner und Degowski haben keinen Plan und fahren erst einmal kreuz und quer durch Gladbeck, besorgen sich Alkohol, Zigaretten, legen sogar einen Zwischenstopp an einer Imbißbude ein und kaufen bei einer Apotheke Medikamente. Die tausend Augen der Medien sind immer dabei und dokumentieren jeden Schritt.
Das alles ist erst der Anfang. Noch fast zwei Tage lang wird die Tragödie die Republik in Atem halten. Die Täter nehmen noch Rösners Freundin Marion Löblich auf und fahren über Münster und Osnabrück nach Hagen und von dort aus am nächsten Tag nordwärts nach Bremen. Dort bringen sie einen Linienbus mit 32 Fahrgästen in ihre Gewalt. Auch diese Phase des Verbrechens Verbrechens gerät zum Medienspektakel. Sowohl Geiselnehmer als auch Geiseln werden interviewt, die Sensationspresse hat ihre Bilder und Töne im Kasten.
Nach wildwestreifen Verfolgungsjagden, die bis in die Niederlande führen, und wilden Schießereien bleiben schließlich drei Menschen auf der Strecke. Zwei Geiseln, der 14jährige Schüler Emanuele de Giorgi und die 18jährige Auszubildende Silke Bischoff, werden von den Tätern erschossen, ein Polizist kommt ums Leben, als sein Fahrzeug bei der Verfolgung der Gangster mit einem Lkw kollidiert. Auf der Autobahn bei Bad Honnef schlägt ein Spezialeinsatzkommando am Mittag des 18. August zu. Rösner und Degowski können lebend verhaftet werden, sie erhalten im März 1991 lebenslange Haftstrafen. Degowski kommt im Februar 2018 nach fast 30 Jahren Haft frei.
Massive Kritik an den Einsatzfehlern der Polizei und am Verhalten der Medien folgten dem Drama, auch einige Politikerköpfe rollten. Dabei wurde das Gebaren der Journalisten allerdings sehr unterschiedlich bewertet, immerhin konnten sie durch Gespräche mit den Gangstern die Freilassung einiger Geiseln erreichen. In den Pressekodex wurde als direkte Konsequenz die Richtlinie 11.2 aufgenommen, in der festgelegt ist, daß es Interviews mit den Tätern während eines Tatgeschehens nicht geben darf. „Wir waren alle kollektiv durchgeknallt“, blickt Udo Röbel, einer der aktiv beteiligten Reporter und späterer Bild-Chefredakteur, nach Jahren nicht ohne Scham zurück. Xaver Warncke
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Wenn es ernst wird, ist Versagen in diesem Land Programm. Nur einer hat in mehreren Fällen einen kühlen Kopf bewahrt bzw. den Mut, Entscheidungen zu treffen. Das war Helmut Schmidt.