Viktor Olewitsch, Analytiker der Moskauer Denkfabrik „Zentrum für aktuelle Politik“, erklärt im ZUERST!-Gespräch, welches System hinter der NATO-Politik steckt.
Herr Olewitsch, bei seinem Litauen-Besuch erklärte der neue deutsche Außenminister Sigmar Gabriel, das „Militärpotential, das die Russische Föderation hier aufbaut“, sei „irrational“. Erklären Sie uns, wieso verhalten sich die Russen so „irrational“?
Olewitsch: Die Präsenz russischer Truppen auf russischem Boden „irrational“ zu nennen, ist selbst irrational und problematisch. Ein kurzer Blick auf die Landkarte genügt, um zu sehen, daß keine russischen Soldaten am Rio Grande oder am Rhein stehen. Sie sind auf russischem Territorium stationiert, während US-Soldaten in ganz Europa unterwegs sind und sich entlang Rußlands Westgrenze sammeln.
Die NATO–Truppenkonzentration an der östlichen EU–Grenze wird von einer regelrechten Russophobie–Welle in den europäischen Mainstream–Medien begleitet. Rußland, Wladimir Putin und russische Internet–„Trolle“ werden zum neuen alten Feindbild des „freien Europas“ erklärt. Was steckt hinter den anti-russischen Ressentiments?
Olewitsch: Das Ende des Warschauer Pakts und die Auflösung der Sowjetunion zwischen 1989 und 1991 haben der NATO ihre Sinngrundlage geraubt. Seitdem ist das Bündnis auf der Suche nach einer Mission, die die Mitgliedsstaaten zusammenhält. Nach über zwei Jahrzehnten will Washington erneut das Gespenst der Sowjetunion in Form einer neuen Gefahr durch Rußland aus der Mottenkiste holen. Indem man in eine Geisteshaltung aus der Zeit des Kalten Krieges zurückfällt, präsentieren sich die Vereinigten Staaten als die einzige Macht, die bereit und willens ist, Europa vor einem angeblichen russischen Angriff zu bewahren. Die Hauptziele dieser Agenda: Einerseits soll Europa zusammengehalten werden, besonders jetzt, da es sich in einer ernsten inneren politischen, wirtschaftlichen und sozialen Krise befindet. Andererseits soll natürlich auch die US-Dominanz über den Kontinent weiter aufrechterhalten werden.
Derzeit ist eine Aufhebung der Sanktionen gegen Rußland so unwahrscheinlich wie selten zuvor. Aber was sind die wirklichen Auswirkungen der Sanktionen gegen Rußland?
Olewitsch: Mit den Sanktionen werden verschiedene Ziele verfolgt. Erstens soll natürlich das Wirtschaftspotential Rußlands geschwächt werden, indem man die Industrie-, Energie-und Banksektoren unmittelbar angreift. Die westlichen Strategen hoffen, dadurch die Wiederaufrüstung der russischen Streitkräfte aufhalten zu können und die Wettbewerbsfähigkeit der russischen Rüstungsindustrie auch auf dem internationalen Markt zu schwächen. Von dem letzten Punkt würde natürlich vor allem der eigene, US-amerikanische militärisch-industrielle Komplex profitieren. Zweitens erwartet man von den Sanktionen, daß sie Rußland zunehmend politisch destabilisieren werden. Es sollen gezielt Spannungen in der Gesellschaft und Gegensätze in der politischen Führung provoziert werden. Drittens: Mit der Sanktionspolitik soll ebenso die europäische Wirtschaft geschwächt werden, um die Abhängigkeit Europas von den Vereinigten Staaten weiter zu forcieren.
Was tut Rußland gegen die Sanktionen?
Olewitsch: Als Antwort auf die Sanktionen hat Moskau den Fokus seiner wirtschaftlichen Beziehungen nach Osten verschoben und die Zusammenarbeit mit den asiatischen Partnern ausgeweitet. Die Gegensanktionen des Kremls haben zu einem kräftigen Wiedererstarken des russischen Agrarsektors geführt. Ebenfalls hervorragend haben sich die Banken und Energiekonzerne an die neuen Gegebenheiten angepaßt, genau wie die Rüstungsindustrie. Der Versuch, die russische Bevölkerung gegen die Regierung aufzubringen, ist gründlich nach hinten losgegangen. Mit den Auswirkungen der aggressiven Politik des Westens konfrontiert, sind die Russen enger zusammengerückt. Unglücklicherweise war Washington wenigstens auf einem Gebiet zumindest teilweise erfolgreich, und zwar bei der Schädigung der europäischen Wirtschaft.
Sehen Sie die Mischung aus Militärmanövern in Osteuropa, den Wirtschaftssanktionen und dem Anstieg der Westpropaganda als Bedrohung für Rußland?
Olewitsch: Die politische und militärische Führung Rußlands zieht den gesamten Handlungsspielraum des Westens in Betracht und entwickelt daraus ihr politisches Vorgehen. Die verstärkte NATO-Aktivität an den russischen Grenzen und die Verbreitung kruder anti-russischer Verschwörungstheorien sind nicht unbemerkt geblieben.
Ist dieses Säbelrasseln nicht gefährlich – sowohl für Europa als auch für Rußland?
Olewitsch: Der militärische Aufmarsch an der russischen Westgrenze ist sowohl gefährlich wie auch kontraproduktiv. Das Spiel mit dem Feuer birgt die große Gefahr von Provokationen und unerwünschten Eskalationen. Weder Europa noch Rußland profitieren von diesen Spannungen.
Ist der Konflikt in der Ukraine nicht schon ein Stellvertreterkrieg zwischen dem Westen und Rußland?
Olewitsch: Der Bürgerkrieg in der Ostukraine wurde durch einen vom Westen unterstützten Staatsstreich im Februar 2014 herbeigeführt. Der rechtmäßig gewählte Präsident wurde gestürzt, und statt seiner wurde ein radikal russophobes Regime eingesetzt, dessen Loyalität mehr bei seinen Freunden jenseits des Ozeans als dem ukrainischen Volk liegt. Die neue Regierung steht in krassem Gegensatz zu den Russen und den russischsprachigen Menschen in der Ukraine, die die Mehrheit der Bevölkerung im Osten und Süden des Landes ausmachen. Mit dem Einverständnis der USA geht Kiew mit aller Gewalt militärisch gegen die Bürger des Donbass vor, die lediglich für ihre Rechte aufstehen. Luftschläge, Artilleriebeschuß und Raketenangriffe gegen zivile Ziele haben Tausende Tote und Verletzte in der ganzen Region gefordert. In Washington hegte man die Hoffnung, die unerhörten Angriffe des Kiewer Satellitenregimes auf seine eigenen Bürger würden die Russen dazu veranlassen, selbst aktiv in den Krieg einzugreifen. Aber man hat sich verkalkuliert. Jetzt steckt Europa in einem humanitären Dilemma.
Wer hätte einen Vorteil von einer militärischen Konfrontation in Europa?
Olewitsch: 1941 hat der US-Senator und spätere Präsident Harry S. Truman gesagt: „Wenn wir sehen, daß Deutschland gewinnt, sollten wir Rußland helfen, und wenn Rußland gewinnt, sollten wir Deutschland helfen, und auf diese Weise sollen sie so viele wie möglich töten.“ Obwohl das Zitat über 75 Jahre alt ist, bleibt es bis heute gültig. Denn es spiegelt noch immer die klassische US-amerikanische Herangehensweise in der Außenpolitik wider, um so die Vorherrschaft über Europa zu behalten. Heute zwingt Washington Europa in eine unnötige und politisch wie wirtschaftlich verlustreiche Konfrontation, und die USA sind der einzige Nutznießer.
Wie bewerten Sie die unterschiedlichen Aussagen westlicher Politiker auf der Münchner Sicherheitskonferenz?
Olewitsch: (…)
Glauben Sie, daß sich unter Donald Trump die Haltung der Vereinigten Staaten zu Rußland grundlegend ändern wird?
Olewitsch: Donald Trump ist umzingelt von Feinden seiner Außen-und Innenpolitik: Sie sitzen bei den US-Geheimdiensten, in den Führungsriegen der Demokratischen und der Republikanischen Partei, in Teilen der Regierungsbürokratie und in den transnationalen Unternehmen. Diese Feinde provozieren eine neue McCarthy-Ära in den Vereinigten Staaten, indem sie ein russophobes Klima anheizen. Das hat jegliche Versuche, die Beziehungen zwischen Moskau und Washington zu normalisieren, scheitern lassen. Auch in der nahen Zukunft sehe ich dafür wenig Chancen. Die politisch instabile Lage und die Kämpfe untereinander haben jedoch dazu geführt, daß weder das US-Außenministerium noch das amerikanische Außenpolitik-Establishment einer klaren Linie folgt. Je länger der Machtkampf in den Vereinigten Staaten anhält, desto mehr Raum erhalten Rußland und Europa für diplomatische Manöver.
Was würde es für Europa bedeuten, wenn die US–Amerikaner ihre Rußlandpolitik anpassen sollten?
Olewitsch: (…)
Deutschland und die Kanzlerin Angela Merkel spielen eine wesentliche Rolle in der anti–russischen Koalition. Wieso ist Deutschland so wichtig für die NATO-Agenda gegen Moskau?
Olewitsch: Erstens ist Deutschland der Wirtschaftsmotor der Europäischen Union und nimmt daher eine Schlüsselfunktion in Washingtons Europa-Strategie ein. Zweitens ist die deutsche Souveränität seit Ende des Zweiten Weltkrieges eingeschränkt, und zwar unter der Aufsicht der Vereinigten Staaten. US-amerikanische Militärstützpunkte sind über das ganze Land verteilt und können von der Berliner Regierung nicht einfach aufgelöst werden. Die Kanzlerin und andere Regierungsvertreter werden von den US-Geheimdiensten abgehört und können nichts gegen deren Aktivitäten auf deutschem Boden unternehmen. So bewegen sich die US-Agenten in Frankfurt genauso frei, als wären sie in Langley, Virginia [Sitz des CIA-Hauptquartiers, Anm. d. Red.]. Deutschland ist für die Vereinigten Staaten deswegen ein zuverlässiger Partner, weil Washington die volle Kontrolle hat. Drittens: Washington beschenkt traditionell seine wichtigsten Satellitenstaaten mit einer „Minisphäre“, innerhalb deren sie Einfluß in regionalen Ausmaßen ausüben können. Deutschland hat also einen gewissen Einflußbereich in Mittel-und Osteuropa und fühlt sich Washington für dieses Zugeständnis verpflichtet. Solange aber Berlin unter dem Einfluß Washingtons steht, wird man sich in Deutschland der US-Außenpolitik anschließen, selbst wenn es den Interessen des deutschen Volkes widerspricht.
Was wird passieren, wenn Deutschland aus der anti–russischen Koalition ausschert, um sich mit Moskau auszusprechen?
Olewitsch: Für Deutschland wird das Hervortreten unter dem US-Schirm eine Frage der Rückgewinnung der eigenen Souveränität sein. Ein souveränes Deutschland wäre frei, auf der Grundlage der Interessen des eigenen Volkes gute Beziehungen zu Rußland und anderen Staaten zu unterhalten. Anders als die Vereinigten Staaten unterhält Moskau keine Militärbasen mehr auf deutschem Boden und versucht nicht die deutsche Politik zu kontrollieren oder zu überwachen. Die Beziehungen zwischen den beiden Ländern wären von gegenseitigem Vertrauen und Verständnis geprägt.
Mit den kommenden Wahlen könnte sich die Haltung Rußland gegenüber plötzlich ändern. Was sind Ihre Erwartungen?
Olewitsch: Die wichtigsten Themen für die europäischen Wähler in den kommenden Wahlen werden die Wirtschaftslage und die Krise in der Eurozone, die Asylkrise und die dazugehörige Kriminalitäts-und Terrorwelle sein. Wenn die Deutschen im September wählen gehen, werden die Beziehungen zu Rußland nicht das Thema sein, das sie am meisten beschäftigt. Aber die europäische Haltung Rußland gegenüber ist eng mit Fragen nach der eigenen Souveränität und unabhängiger Entscheidungsfindung verknüpft. Wenn die deutschen und auch die europäischen Wähler Regierungen wählen sollten, die ihre jeweiligen Staaten von der US-Kontrolle lösen und die Innen-und Außenpolitik souverän gestalten, werden sich die Beziehungen zu Rußland normalisieren, und der Konflikt wird ein Ende finden. Das wird eine Zeit sein, in der alles, was gut für Europa ist, auch gut für Rußland sein wird.
Herr Olewitsch, vielen Dank für das Gespräch
Viktor Olewitsch, geboren 1978, ist russischer Politikwissenschaftler und Experte für russisch-amerikanische Beziehungen. Er arbeitet als Analytiker beim in Moskau ansässigen „Zentrum für aktuelle Politik“. Olewitsch schreibt regelmäßig für große russische Zeitungen Kommentare und Analysen, darunter Iswestija, Komsomolskaja Prawda und Kultura. Außerdem schreibt er für die US-amerikanische Washington Times. Viktor Olewitsch ist zudem regelmäßiger Gast in Politiksendungen im russischen Fernsehen.
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