ZUERST!-Interview mit Viktor Olewitsch: Kann Europa sich selbst von der transatlantischen Vorherrschaft befreien?

25. Juli 2017
ZUERST!-Interview mit Viktor Olewitsch: Kann Europa sich selbst von der transatlantischen Vorherrschaft befreien?
International
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Foto: Symbolbild

Viktor Olewitsch, Analytiker der Moskauer Denkfabrik „Zentrum für aktuelle Politik“, erklärt im ZUERST!-Gespräch, welches System hinter der NATO-Politik steckt.

Herr Olewitsch, bei seinem Litauen-Besuch erklärte der neue deutsche Au­ßenminister Sigmar Gabriel, das „Militärpotential, das die Russische Födera­tion hier aufbaut“, sei „irrational“. Er­klären Sie uns, wieso verhalten sich die Russen so „irrational“?

Olewitsch: Die Präsenz russischer Trup­pen auf russischem Boden „irrational“ zu nennen, ist selbst irrational und pro­blematisch. Ein kurzer Blick auf die Landkarte genügt, um zu sehen, daß keine russischen Soldaten am Rio Gran­de oder am Rhein stehen. Sie sind auf russischem Territorium stationiert, während US-Soldaten in ganz Europa unterwegs sind und sich entlang Ruß­lands Westgrenze sammeln.

Die NATOTruppenkonzentration an der östlichen EUGrenze wird von einer regelrechten RussophobieWelle in den europäischen MainstreamMedien be­gleitet. Rußland, Wladimir Putin und russische Internet„Trolle“ werden zum neuen alten Feindbild des „freien Euro­pas“ erklärt. Was steckt hinter den anti-russischen Ressentiments?

Olewitsch: Das Ende des Warschauer Pakts und die Auflösung der Sowjetunion zwischen 1989 und 1991 haben der NATO ihre Sinngrundlage geraubt. Seitdem ist das Bündnis auf der Suche nach einer Mission, die die Mitglieds­staaten zusammenhält. Nach über zwei Jahrzehnten will Washington erneut das Gespenst der Sowjetunion in Form ei­ner neuen Gefahr durch Rußland aus der Mottenkiste holen. Indem man in eine Geisteshaltung aus der Zeit des Kalten Krieges zurückfällt, präsentieren sich die Vereinigten Staaten als die einzige Macht, die bereit und willens ist, Europa vor einem angeblichen russischen Angriff zu bewahren. Die Hauptziele dieser Agenda: Einerseits soll Europa zusammengehalten werden, besonders jetzt, da es sich in einer ernsten inneren politischen, wirtschaftlichen und sozialen Krise befindet. Andererseits soll natürlich auch die US-Dominanz über den Kontinent wei­ter aufrechterhalten werden.

Derzeit ist eine Aufhebung der Sanktio­nen gegen Rußland so unwahrscheinlich wie selten zuvor. Aber was sind die wirk­lichen Auswirkungen der Sanktionen gegen Rußland?

Olewitsch: Mit den Sanktionen werden verschiedene Ziele verfolgt. Erstens soll natürlich das Wirtschaftspotential Ruß­lands geschwächt werden, indem man die Industrie-, Energie-und Banksekto­ren unmittelbar angreift. Die westlichen Strategen hoffen, dadurch die Wieder­aufrüstung der russischen Streitkräfte aufhalten zu können und die Wettbewerbsfähigkeit der russischen Rü­stungsindustrie auch auf dem internationalen Markt zu schwächen. Von dem letzten Punkt würde natürlich vor allem der eigene, US-amerikanische militärisch-industrielle Komplex profitieren. Zweitens erwartet man von den Sanktionen, daß sie Rußland zuneh­mend politisch destabilisieren werden. Es sollen gezielt Spannungen in der Gesellschaft und Gegensätze in der po­litischen Führung provoziert werden. Drittens: Mit der Sanktionspolitik soll ebenso die europäische Wirtschaft ge­schwächt werden, um die Abhängigkeit Europas von den Vereinigten Staaten weiter zu forcieren.

Was tut Rußland gegen die Sanktionen?

Olewitsch: Als Antwort auf die Sanktio­nen hat Moskau den Fokus seiner wirt­schaftlichen Beziehungen nach Osten verschoben und die Zusammenarbeit mit den asiatischen Partnern ausgewei­tet. Die Gegensanktionen des Kremls haben zu einem kräftigen Wiedererstar­ken des russischen Agrarsektors geführt. Ebenfalls hervorragend haben sich die Banken und Energiekonzerne an die neuen Gegebenheiten angepaßt, genau wie die Rüstungsindustrie. Der Versuch, die russische Bevölkerung gegen die Regierung aufzubringen, ist gründlich nach hinten losgegangen. Mit den Aus­wirkungen der aggressiven Politik des Westens konfrontiert, sind die Russen enger zusammengerückt. Unglücklicherweise war Washington wenigstens auf einem Gebiet zumindest teilweise er­folgreich, und zwar bei der Schädigung der europäischen Wirtschaft.

Sehen Sie die Mischung aus Militärmanövern in Osteuropa, den Wirt­schaftssanktionen und dem Anstieg der Westpropaganda als Bedrohung für Rußland?

Olewitsch: Die politische und militäri­sche Führung Rußlands zieht den ge­samten Handlungsspielraum des We­stens in Betracht und entwickelt daraus ihr politisches Vorgehen. Die verstärkte NATO-Aktivität an den russischen Grenzen und die Verbreitung kruder anti-russischer Verschwörungstheorien sind nicht unbemerkt geblieben.

Ist dieses Säbelrasseln nicht gefährlich – sowohl für Europa als auch für Rußland?

Olewitsch: Der militärische Aufmarsch an der russischen Westgrenze ist so­wohl gefährlich wie auch kontrapro­duktiv. Das Spiel mit dem Feuer birgt die große Gefahr von Provokationen und unerwünschten Eskalationen. We­der Europa noch Rußland profitieren von diesen Spannungen.

Ist der Konflikt in der Ukraine nicht schon ein Stellvertreterkrieg zwischen dem Westen und Rußland?

Olewitsch: Der Bürgerkrieg in der Ostukraine wurde durch einen vom Westen unterstützten Staatsstreich im Februar 2014 herbeigeführt. Der recht­mäßig gewählte Präsident wurde gestürzt, und statt seiner wurde ein ra­dikal russophobes Regime eingesetzt, dessen Loyalität mehr bei seinen Freunden jenseits des Ozeans als dem ukrainischen Volk liegt. Die neue Re­gierung steht in krassem Gegensatz zu den Russen und den russischsprachi­gen Menschen in der Ukraine, die die Mehrheit der Bevölkerung im Osten und Süden des Landes ausmachen. Mit dem Einverständnis der USA geht Kiew mit aller Gewalt militärisch gegen die Bürger des Donbass vor, die lediglich für ihre Rechte aufstehen. Luftschläge, Artilleriebeschuß und Raketenangriffe gegen zivile Ziele haben Tausende Tote und Verletzte in der ganzen Region ge­fordert. In Washington hegte man die Hoffnung, die unerhörten Angriffe des Kiewer Satellitenregimes auf seine ei­genen Bürger würden die Russen dazu veranlassen, selbst aktiv in den Krieg einzugreifen. Aber man hat sich ver­kalkuliert. Jetzt steckt Europa in einem humanitären Dilemma.

Wer hätte einen Vorteil von einer militärischen Konfrontation in Europa?

Olewitsch: 1941 hat der US-Senator und spätere Präsident Harry S. Truman gesagt: „Wenn wir sehen, daß Deutsch­land gewinnt, sollten wir Rußland hel­fen, und wenn Rußland gewinnt, sollten wir Deutschland helfen, und auf diese Weise sollen sie so viele wie möglich tö­ten.“ Obwohl das Zitat über 75 Jahre alt ist, bleibt es bis heute gültig. Denn es spiegelt noch immer die klassische US-amerikanische Herangehensweise in der Außenpolitik wider, um so die Vorherrschaft über Europa zu behalten. Heute zwingt Washington Europa in eine unnötige und politisch wie wirt­schaftlich verlustreiche Konfrontation, und die USA sind der einzige Nutznießer.

Wie bewerten Sie die unterschiedlichen Aussagen westlicher Politiker auf der Münchner Sicherheitskonferenz?

Olewitsch: (…)

Glauben Sie, daß sich unter Donald Trump die Haltung der Vereinigten Staaten zu Rußland grundlegend än­dern wird?

Olewitsch: Donald Trump ist umzingelt von Feinden seiner Außen-und Innen­politik: Sie sitzen bei den US-Geheim­diensten, in den Führungsriegen der De­mokratischen und der Republikanischen Partei, in Teilen der Regierungsbürokratie und in den transnationalen Unter­nehmen. Diese Feinde provozieren eine neue McCarthy-Ära in den Vereinigten Staaten, indem sie ein russophobes Kli­ma anheizen. Das hat jegliche Versuche, die Beziehungen zwischen Moskau und Washington zu normalisieren, scheitern lassen. Auch in der nahen Zukunft sehe ich dafür wenig Chancen. Die politisch instabile Lage und die Kämpfe unter­einander haben jedoch dazu geführt, daß weder das US-Außenministerium noch das amerikanische Außenpolitik-Establishment einer klaren Linie folgt. Je länger der Machtkampf in den Vereinigten Staaten anhält, desto mehr Raum erhalten Rußland und Europa für diplomatische Manöver.

Was würde es für Europa bedeuten, wenn die USAmerikaner ihre Ruß­landpolitik anpassen sollten?

Olewitsch: (…)

Deutschland und die Kanzlerin Angela Merkel spielen eine wesentliche Rolle in der antirussischen Koalition. Wieso ist Deutschland so wichtig für die NATO-Agenda gegen Moskau?

Olewitsch: Erstens ist Deutschland der Wirtschaftsmotor der Europäischen Union und nimmt daher eine Schlüs­selfunktion in Washingtons Europa-Strategie ein. Zweitens ist die deutsche Souveränität seit Ende des Zweiten Weltkrieges eingeschränkt, und zwar unter der Aufsicht der Vereinigten Staaten. US-amerikanische Militärstützpunkte sind über das ganze Land verteilt und können von der Berliner Regierung nicht einfach aufgelöst werden. Die Kanzlerin und andere Regierungsvertre­ter werden von den US-Geheimdiensten abgehört und können nichts gegen de­ren Aktivitäten auf deutschem Boden unternehmen. So bewegen sich die US-Agenten in Frankfurt genauso frei, als wären sie in Langley, Virginia [Sitz des CIA-Hauptquartiers, Anm. d. Red.]. Deutschland ist für die Vereinigten Staa­ten deswegen ein zuverlässiger Partner, weil Washington die volle Kontrolle hat. Drittens: Washington beschenkt traditionell seine wichtigsten Satellitenstaa­ten mit einer „Minisphäre“, innerhalb deren sie Einfluß in regionalen Ausmaßen ausüben können. Deutschland hat also einen gewissen Einflußbereich in Mittel-und Osteuropa und fühlt sich Washington für dieses Zugeständnis ver­pflichtet. Solange aber Berlin unter dem Einfluß Washingtons steht, wird man sich in Deutschland der US-Außenpolitik an­schließen, selbst wenn es den Interessen des deutschen Volkes widerspricht.

Was wird passieren, wenn Deutschland aus der antirussischen Koalition aus­schert, um sich mit Moskau auszuspre­chen?

Olewitsch: Für Deutschland wird das Hervortreten unter dem US-Schirm eine Frage der Rückgewinnung der ei­genen Souveränität sein. Ein souveränes Deutschland wäre frei, auf der Grund­lage der Interessen des eigenen Volkes gute Beziehungen zu Rußland und an­deren Staaten zu unterhalten. Anders als die Vereinigten Staaten unterhält Moskau keine Militärbasen mehr auf deutschem Boden und versucht nicht die deutsche Politik zu kontrollieren oder zu überwachen. Die Beziehungen zwischen den beiden Ländern wären von gegenseitigem Vertrauen und Ver­ständnis geprägt.

Mit den kommenden Wahlen könnte sich die Haltung Rußland gegenüber plötzlich ändern. Was sind Ihre Erwar­tungen?

Olewitsch: Die wichtigsten Themen für die europäischen Wähler in den kom­menden Wahlen werden die Wirtschafts­lage und die Krise in der Eurozone, die Asylkrise und die dazugehörige Kriminalitäts-und Terrorwelle sein. Wenn die Deutschen im September wählen gehen, werden die Beziehungen zu Rußland nicht das Thema sein, das sie am meisten beschäftigt. Aber die euro­päische Haltung Rußland gegenüber ist eng mit Fragen nach der eigenen Souveränität und unabhängiger Entschei­dungsfindung verknüpft. Wenn die deutschen und auch die europäischen Wähler Regierungen wählen sollten, die ihre jeweiligen Staaten von der US-Kontrolle lösen und die Innen-und Außenpolitik souverän gestalten, wer­den sich die Beziehungen zu Rußland normalisieren, und der Konflikt wird ein Ende finden. Das wird eine Zeit sein, in der alles, was gut für Europa ist, auch gut für Rußland sein wird.

Herr Olewitsch, vielen Dank für das Ge­spräch

Viktor Olewitsch, geboren 1978, ist russischer Politikwissenschaftler und Experte für russisch-amerikanische Beziehungen. Er arbeitet als Analytiker beim in Moskau ansässigen „Zentrum für aktuelle Politik“. Olewitsch schreibt regelmäßig für große russische Zeitungen Kommentare und Analysen, darunter Iswestija, Komsomolskaja Prawda und Kultura. Außerdem schreibt er für die US-amerikanische Washington Times. Viktor Olewitsch ist zudem regelmäßiger Gast in Politik­sendungen im russischen Fernsehen.

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