Premium-Opfer? Nicht alle Totgeschlagenen bekommen so viel Aufmerksamkeit wie Tugce A.

1. April 2015
Premium-Opfer? Nicht alle Totgeschlagenen bekommen so viel Aufmerksamkeit wie Tugce A.
Kultur & Gesellschaft
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Foto: Symbolbild

Offenbach. Jung, schön, intelligent, mutig, integriert – ohne diese Attribute kam so gut wie kein Artikel aus, der über das tragische Schicksal der Studentin Tugce Albayrak berichtete, die auf dem Parkplatz einer McDonald’s-Filiale in Offenbach niedergeschlagen wurde und ins Koma fiel.

Knapp zwei Wochen darauf, am 23. Geburtstag der jungen Frau, entschieden ihre Eltern, daß die lebenserhaltenden Apparate abgeschaltet werden. Rund 1.500 Menschen hatten sich vor der Klinik versammelt, um in dieser schweren Stunde ein Zeichen der Anteilnahme zu setzen. Zu dieser Zeit kannte wohl fast jeder in Deutschland den Namen des Opfers, der in den Nachrichtensendungen immer wieder genannt worden war.

Tugce gilt als Vorbild, als Heldin. Sie mußte sterben, weil sie vor der Toilette des Restaurants zwei jungen Mädchen beistand, die von mehreren Männern – darunter dem späteren Täter – belästigt worden waren, hieß es. Später trafen sich beide auf dem Parkplatz wieder – mit tödlichem Ausgang für die Studentin. In seinem Kondolenzbrief an die Familie beteuerte Bundespräsident Joachim Gauck, Tugce habe „in beispielhafter Weise Mut und Zivilcourage bewiesen“. Doch was ist über die Tathintergründe bekannt? Die betroffenen Mädchen meldeten sich erst zwei Wochen später bei der Polizei und sagten aus. Was sie sagten, verrät die Polizei nicht. Damit bleibt zunächst auch unklar, wovor genau Tugce die Mädchen bewahrt haben soll. Eine versuchte Vergewaltigung wird es wohl nicht gewesen sein.

Auf dem später aufgetauchten Überwachungsvideo ist zu sehen, wie der spätere Täter auf dem Parkplatz wütet und tobt und von einem Freund immer wieder zurückgehalten werden muß, auf andere loszugehen. Der 18jährige Sanel M., ein Muslim „mit kosovarischen oder bosnischen Wurzeln“ (n-tv.de) und serbischem Paß, ist wegen gefährlicher Körperverletzung, Sachbeschädigung und Diebstahl polizeibekannt, arbeitslos, ein Typ, der aus geringstem Anlaß ausrastet. Wie auf dem Video zu sehen ist, nähert sich Tugce dem mit seinem Freund rangelnden Täter, bekommt einen Schlag ab und geht sofort zu Boden. War das mutig oder leichtsinnig? Und kann man daraus einen Tötungsvorsatz des Schlägers ableiten? Fragen, die noch geklärt werden müssen.

Für viele ist jedoch längst klar: Tugce ist eine Heldin. Über 200.000 Unterzeichner einer Online-Petition fordern, ihr postum das Bundesverdienstkreuz zu verleihen. Der Bundespräsident hat bereits eine Prüfung des Anliegens zugesagt. Die Auszeichnung hatte auch Dominik Brunner erhalten, der im September 2009 in der Münchner U-Bahn einige Schüler vor gewalttätigen Jugendlichen in Schutz nahm und dafür von diesen totgeschlagen wurde. Die Täter: Deutsche ohne Migrationshintergrund. Bundesverdienstkreuz, wochenlanger Medienrummel, aufgesetzte Quasi-Staatstrauer: Sind das die Mittel der Politik, um vom eigenen Totalversagen abzulenken? Um unter den Teppich zu kehren, daß dieser Staat nicht willens ist, die Öffentlichkeit vor lebenden Zeitbomben wie Sanel M. zu schützen?

Welch ein Unterschied auch zu ähnlich gelagerten Fällen. Als im März 2013 der 25jährige Daniel Siefert im niedersächsischen Kirchweyhe von mehreren jungen Migranten so schwer getreten und geschlagen wurde, daß er wenige Tage später im Krankenhaus starb, rührte sich kein Joachim Gauck, und kein Franz Josef Wagner sonderte schwülstige Stammtisch-Prosa in der Bild ab. Auch Daniel wollte nur einen Streit schlichten, auch Daniel zeigte Zivilcourage. Doch die offizielle Politik bewegte allein die Sorge, daß die Bluttat von Rechten „instrumentalisiert“ werden könnte. Die Beisetzung konnte nur unter Polizeischutz stattfinden, weil Kumpane der Täter mit Gewalt gedroht hatten. Nicht einmal SPD-Innenminister Boris Pistorius hielt es für nötig, der Familie sein Beileid auszusprechen.

Um zu vergleichen, muß man aber gar nicht so weit zurückgehen. Am 4. Dezember wurde in Stöcken, einem Stadtteil von Hannover, ein Supermarkt überfallen. Dabei erschoß der Täter einen 21jährigen Kunden, der den Überfall vereiteln wollte, und verletzte bei der Flucht einen weiteren Mann schwer. Der Schütze wird als etwa 40 Jahre alt, 1,65 bis 1,75 Meter groß, kräftig, mit kurzen rotblonden Haaren beschrieben. Er soll, so der NDR, „mit osteuropäischem Akzent gesprochen haben“. Im Schlepptau des Falles von Tugce wurde auch über dieses Verbrechen bundesweit berichtet, den Tenor bestimmte jedoch die Formulierung einer Polizeisprecherin: „Zivilcourage ist eine wichtige Sache, aber man sollte sich nicht in große Gefahr bringen.“ Beileidsbekundungen der hohen Politik? Keine. Und hatte das Opfer auch einen Namen? Ja – aber in den meisten Berichten blieb der junge Mann namenlos. Er hieß Joey Karsten.

Dieser Artikel erschien in ZUERST! Ausgabe 1/2015 –
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