Graz. Wahrscheinlich in Erwartung zahlreicher preisgünstiger Fachkräfte, die aufgrund der seit Januar geltenden Freizügigkeit für südosteuropäische EU-Länder auch in Österreich erwartet werden, beginnt der dortige Arbeitsmarktservice/AMS) damit, die einheimischen Bewohner an neue Gehaltsstrukturen zu gewöhnen.
So wurde einer Grazerin jetzt vom dortigen AMS ein 727-Euro-Job angeboten. Nun würde man dabei vielleicht mit einer Teilzeitstelle rechnen, doch handelt es sich tatsächlich um eine Vollzeitstelle mit 40 Wochenarbeitsstunden. Umgelegt für eine vierwöchige Beschäftigung, errechnet sich daraus ein Stundenlohn von 4,50 Euro. Für diesen Lohn könnte man normalerweise keinen Ungelernten hinter dem Ofen hervorlocken, aber für die vom AMS angebotene Stelle wird einiges vorausgesetzt. Eine abgeschlossene kaufmännische Ausbildung, eine einschlägige Berufserfahrung zum eigenständigen Arbeiten sowie perfekte Maschinschreib- und Rechtschreibkenntnisse von der Bewerberin verlangt, auch sollte sie „freundlich, zuverlässig und belastbar sein“. Sie soll auch „gerne selbständig und gewissenhaft arbeiten und gut ins Team passen“.
Der Brutto/Netto-Rechner der Arbeiterkammer errechnet ein Nettoeinkommen von gerade einmal 617 Euro monatlich, mit dem die Betroffene rund 200 Euro unter der Mindestsicherung liegen würde, die in der Steiermark für eine alleinstehende Person bei 813,99 Euro beträgt. Die Grazerin kann zur Annahme des unverschämten Stellenangebots gezwungen werden, denn in den gültigen rechtlichen Bestimmungen zum Bezug von Grundsicherungsleistungen steht: „Ein wesentliches Ziel der Bedarfsorientierten Mindestsicherung ist es, Menschen wieder in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Zu diesem Zweck wird die Leistungsfähigkeit für den Arbeitsmarkt festgestellt. All jene, die sich weigern, ihre Leistungsfähigkeit feststellen zu lassen, eine ihnen angebotene zumutbare Arbeit anzunehmen oder an vom Arbeitsmarktservice vermittelten Maßnahmen teilzunehmen, kann die Bedarfsorientierte Mindestsicherung stufenweise gekürzt werden.“
Es ist also kein Wunder, daß von verschiedenen Kreisen – gerade auch in der Bundesrepublik Deutschland – der Zuzug immer neuer Fachkräfte aus Bulgarien und Rumänien begrüßt wird. So sagte Anfang Januar Michael Knipper, der Hauptgeschäftsführer des Hauptverbands der Deutschen Bauindustrie (HDB) der „Welt am Sonntag“: „Die Leute sind gut ausgebildet, motiviert und haben eine faire Chance verdient.“
Die Bundesvereinigung der Arbeitgeber weist zudem darauf hin, daß Zuwanderung angesichts des Fachkräftemangels „ein zentraler Baustein der Arbeitsmarktpolitik“ sei. Aber auch die einstige Arbeitnehmerpartei SPD ist dieser Meinung. Die neue Integrationsbeauftragte Aydan Özoguz (SPD) warnt davor, Stimmung gegen die Einwanderer aus ärmeren EU-Ländern zu machen. „Es gibt zu viele pauschale Vorurteile“, sagte die Staatsministerin im Kanzleramt der „Welt am Sonntag“. Deutschland profitiere in hohem Maße von gut ausgebildeten EU-Bürgern, die bei uns ihre Arbeitskraft anböten.
In Bulgarien liegt der Stundenlohn bei 3,70 Euro, Fachkräfte von dort wären mit 4,50 Euro gewiß zufrieden, weiß man sicherlich auch beim AMS in Graz.
Auf eine naheliegende Lösung für den angeblichen Fachkräftemangel scheint bei alledem niemand zu kommen: auf eine solide Ausbildung des einheimischen Nachwuchses. Statt dessen befindet sich unser Bildungssystem seit Jahrzehnten im Sinkflug, wovon nicht nur Philologen- und Lehrerverbände, sondern gerade auch die Wirtschaft ein Lied zu singen weiß. Selbst Hochschulabgänger sind heute in der Regel nicht mehr in der Lage, eine fehlerfreie Arbeit abzuliefern. Früher – vor 30 oder 40 Jahren – wurde das auch von einem Hauptschüler verlangt – und in der Regel auch erbracht. „Fachkräfte“ aus dem Ausland brauchte man damals nicht.
Dieser Artikel erschien zuerst in „Der Schlesier“.
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