Deutsche Teilung: Wenige Monate vor dem Fall der Mauer starb der 20jährige Chris Gueffroy auf dem Berliner Todesstreifen im Kugelhagel
Gut eine Stunde lang harren die beiden jungen Männer in einem Geräteschuppen der Kleingartenkolonie Holunderbusch in Berlin-Treptow aus, um eine günstige Gelegenheit abzupassen. Die Grenze zum Westteil Berlins ist zum Greifen nah. Gegen halb zwölf Uhr nachts wagen sie es, pirschen sich an die sogenannte Hinterland-Mauer heran und überwinden sie mit einer klassischen „Räuberleiter“. Das nächste Hindernis, ein Signalzaun, soll ihr Verhängnis werden, denn einer der beiden löst versehentlich den Alarm aus. Jetzt muß es schnell gehen.
Die Männer rennen auf den knapp drei Meter hohen Metallgitterzaun zu, als plötzlich Flutlicht die Szenerie erhellt. Schnelle Schritte sind zu hören, Rufe gellen über den Todesstreifen: „Halt! Stehenbleiben!“. Ein erster Warnschuß. Zwei Doppelposten der DDR-Grenzpolizei versuchen, aus verschiedenen Richtungen die Flüchtigen zu erreichen. Denen mißlingt in ihrer Panik, den Zaun mit dem selbstgefertigten Wurfanker zu überwinden. Sie versuchen es erneut mit einer Räuberleiter. „Schieß doch!“ hören sie einen Ruf, bevor das Feuer der Kalaschnikow durch die Nacht peitscht.
Von zehn Schüssen getroffen, davon einer durch den Rücken ins Herz, sackt der 20jährige Chris Gueffroy zusammen und stirbt wenig später – laut Totenschein am 6. Februar 1989 um 0.15 Uhr. Sein gleichaltriger Freund und Kollege Christian Gaudian ist schwerverletzt. Beide werden in Windeseile abtransportiert, der Verletzte wird gleich nach der Versorgung seiner Schußwunden von Mitarbeitern der Staatssicherheit verhört. Die Schüsse sind kilometerweit zu hören gewesen, auch Karin Gueffroy, die in der Nähe wohnt, bekommt sie mit, ahnt natürlich nicht, daß ihr Sohn das Opfer ist.
Erst als Chris am nächsten Tag nicht wie verabredet zum Frühstück erscheint, macht sie sich Gedanken. Ein Freund ihres Sohnes verrät ihr, daß er in den Westen „rübermachen“ wollte. Am nächsten Abend wird sie zur „Klärung eines Sachverhalts“ von der Stasi abgeholt und intensiv verhört. Erst nach Stunden erfährt sie, daß ihr Sohn tot ist. Er habe ein „Attentat auf eine militärische Einrichtung“ begangen und sei dabei getötet worden, lügen die DDR-Geheimdienstler. Doch der Plan, den tragisch gescheiterten Fluchtversuch zu vertuschen, geht nicht auf.
West-Berliner Medien berichten schon kurz darauf von den Vorfällen an der Mauer zwischen Treptow und Neukölln. Einzelheiten sind jedoch noch nicht bekannt. Doch Karin Gueffroy weiß, was zu tun ist. Sie gibt einer Rentnerin, die nach Berlin-West fährt, das Foto ihres Sohnes und ein paar Informationen mit. Wenig später berichtet die Abendschau. Dem Bruder des Toten gelingt es zudem, am 21. Februar eine Todesanzeige in der Berliner Zeitung zu plazieren, in der von einem „tragischen Unglücksfall“ die Rede ist. Zur Beerdigung auf dem Friedhof Baumschulenweg erscheinen zwei Tage später mehr als 100 Trauergäste, argwöhnisch beobachtet von zahlreichen Stasi-Agenten.
Auch West-Journalisten sind vor Ort und berichten kurz darauf. Für die DDR-Führung gestaltet sich die Entwicklung höchst unangenehm. Die Grenzposten, die den erst 20jährigen Chris Gueffroy auf dem Gewissen haben, erhalten zwar Verdienstmedaillen, Sonderurlaub und je 150 Mark Prämie, doch je mehr die Todesschüsse an der Mauer von den westlichen Medien thematisiert werden, desto nervöser wird man im Zentralkomitee der SED. „Anfang April 1989 setzt Honecker die Anwendung des angeblich doch gar nicht existierenden Schießbefehls aus“, so der Spiegel im Rückblick. Die Wende ist nicht mehr weit.
Nach dem Fall des SED-Regimes setzt Karin Gueffroy alles daran, die Verantwortlichen vor Gericht zu bringen. Am 27. Mai 1991 wird gegen die vier beteiligten Grenzer Anklage erhoben, der erste „Mauerschützen“-Prozeß kündigt sich an. Das Urteil, mit dem der Todesschütze zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt wird, hebt der Bundesgerichtshof jedoch 1994 auf. Das folgende Revisionsverfahren endet mit drei Freisprüchen und einer zweijährigen Bewährungsstrafe für den Todesschützen. „Ich finde es nicht gerecht, das sage ich heute immer noch“, bekräftigt Karin Gueffroy noch 2011 im Interview mit der Wochenzeitung Das Parlament.
Chris Gueffroy wurde sein Freiheitsdrang zum Verhängnis. Als Kind schon ein guter Turner, strebte er eine Sportler-Laufbahn an, doch die Verhältnisse in der Kinder- und Jugendsportschule des FC Dynamo Berlin beengten ihn so sehr, daß seine Mutter ihn abmeldete. Pilot konnte er auch nicht werden, denn das ging nur über die Nationale Volksarmee, zu der er nicht wollte. Schließlich wurde er Kellner, verdiente dabei mehr als mancher Arzt, weil er in einem Restaurant arbeitete, das auch von West-Touristen besucht wurde. An Materiellem war kein Mangel, an Entfaltungsmöglichkeiten schon. Er war wie ein „wildes Pferd“, sagte seine Mutter einmal. Chris Gueffroy war das letzte Opfer, das durch Schüsse an der Berliner Mauer starb.
Dirk Reinartz
Foto: Wikipedia/Clemensfranz