Leitartikel ZUERST! 1/2014

26. Dezember 2013

Chefredakteur Manuel Ochsenreiter

Mit einer kleinen Ankündigung hat Bundespräsident Joachim Gauck Anfang Dezember eine Aufregung produziert, die er sich so wahrscheinlich selbst nicht vorgestellt hatte. Das deutsche Staatsoberhaupt werde nicht die Olympischen Winterspiele in Sotschi besuchen, hatte das Bundespräsidialamt der russischen Regierung mitgeteilt. Eine Begründung wurde nicht mitgeliefert. Es gebe schließlich keine Regel, daß Bundespräsidenten die Winterspiele besuchen, begründete eine Sprecherin die Nicht-Begründung.

Schnell macht das Wort „Boykott“ die Runde, und die üblichen Verdächtigen setzten um gehend zum Hofknicks an. „Bravo, Gauck!“ lobte ein Kommentator bei Zeit Online, und die Grünen Claudia Roth und Volker Beck waren von der „starken Haltung“ bzw. dem „starken Signal“ des Präsidenten angetan. Der Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung Markus Löning (FDP) säuselte gar etwas von einer „wunderbaren Geste der Unterstützung für alle russischen Bürger, die sich für Meinungsfreiheit, Demokratie und Bürgerrechte einsetzen“.

Allenthalben war man sich interpretationseinig: Joachim Gauck wolle mit seinem Schritt gegen Menschenrechts- und Demokratiedefizite in Rußland protestieren. Das registrierte auch die internationale Presse so, und ganz besonders natürlich Regierung und Parlament in Rußland. Besser als alle anderen kennt offenbar die Süddeutsche Zeitung die Motive des Präsidenten: „Gauck will erst zu einem Staatsbesuch nach Rußland reisen, bevor er dem Land anderweitig seine Aufwartung macht.“

Die Frage ist: Weshalb hat er dies nicht längst getan? Nach Polen und Israel konnte es ja schließlich auch nicht schnell genug gehen. Der Grund könnte in einer Antipathie gegen Rußland liegen, die mit Putins Politik gar nicht so viel zu tun hat, sondern viel tiefer liegt. Beobachter verweisen in diesem Zusammenhang auf Gaucks DDR-Biographie und den Umstand, daß sein Vater viele Jahre in einem sibirischen Arbeitslager verbringen mußte.

Die unnachgiebige Haltung gegenüber Rußland korrespondiert mit einer gnädigen Milde gegenüber den USA. Keine Verfehlung Washingtons kann groß genug sein, als daß sie von Joachim Gauck nicht ignoriert wird. Selbst der NSA-Spionageskandal und zahlreiche weitere Enthüllungen über zwielichtige Operationen der USA auf deutschem Boden haben nicht zu einer Kritik geführt, die diesen Namen auch nur ansatzweise verdient hätte. Kein Wunder, ist Joachim Gauck doch als Mitglied der Atlantik-Brücke auf Vasallentreue gegenüber den USA festgelegt.

Sein Boykott ist – wie Kolumnist Jakob Augstein völlig zu Recht anmerkt – nichts weniger als ein „diplomatischer Affront“, der in Rußland auch so wahrgenommen wird. Und der umso schwerer wiegt, als die Bundesregierung zugleich eindeutig Position zugunsten der Opposition in der Ukraine bezieht und Moskau damit ebenfalls düpiert. Der Bundespräsident versagt hier erneut in seiner Rolle als „Korrektiv“, die ihm Augstein bei seinem Amtsantritt noch zugemessen hatte. Ein Staatsoberhaupt, das seine persönlichen Befindlichkeiten und seine Eitelkeit höher wertet als die Interessen des von ihm repräsentierten Landes, ist nichts anderes als eine Fehlbesetzung.

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