Berlin. Vor 40 Jahren wurde die Bundesrepublik Deutschland zum Einwanderungsland.
Das mag sich zunächst paradox anhören, denn an dem anstehenden Jahrestag, dem 23. November 1973, erließ der damalige Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung Walter Arendt (SPD) den sogenannten „Anwerbestopp“. In dem Schreiben an den Präsidenten der Bundesanstalt für Arbeit wies er deren Auslandsdienststellen an, „ab sofort die Vermittlung ausländischer Arbeitnehmer einzustellen“. Diese Maßnahme gelte bis auf Widerruf. Eine weitere Vermittlung sei nicht vertretbar, da nicht auszuschließen sei, „daß die gegenwärtige Energiekrise die Beschäftigungssituation in der Bundesrepublik Deutschland in den kommenden Monaten ungünstig beeinflussen wird“.
Diese Maßnahme schien zu bestätigen, was die Politik den Deutschen seit 18 Jahren eingeredet hatte. 1955 hatte die Bundesrepublik ein „Anwerbeabkommen“ mit Italien geschlossen, diesem folgten weitere Verträge mit Spanien und Griechenland (1960), der Türkei (1961), Marokko (1963), Portugal (1964) und Tunesien (1965). Selbst als im Frühjahr 1966 eine erste Rezession einsetzte, in deren Folge die Ausländerbeschäftigung zurückging, wurde 1968 noch mit Jugoslawien ein Anwerbeabkommen unterzeichnet. Die Flaute war jedoch harmlos im Vergleich zu der verheerenden Weltwirtschaftskrise, die im Herbst 1973 infolge des Ölpreisschocks einsetzte. Auslöser war der sogenannte Jom-Kippur-Krieg. Am höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur, der 1973 auf den 6. Oktober fiel, haben syrische und ägyptische Truppen Israel angegriffen, um die ihnen im Sechstagekrieg (1967) entrissenen Gebiete (Golan-Höhen, Sinai-Halbinsel) zurückzuerobern. Wie heute unterstützten auch damals schon die westlichen Staaten Israel in der Auseinandersetzung. Um Druck auf den Westen auszuüben, drosselten die arabischen Staaten die Ölförderung und reduzierten die Ölexporte an den Westen. Die Folge: Öl, jene Energiequelle, von der die westliche Wirtschaft in hohem Maße abhängig war, wurde knapp und extrem teuer. Als Sofortmaßnahme reagierte die Bundesregierung vor 40 Jahren mit der Verordnung „autofreier Sonntage“ und drastischen Bußgeldern bei Verstößen.
Dies konnte jedoch die Krise mit den sich abzeichnenden Einbrüchen auf dem Arbeitsmarkt nicht aufhalten. Jetzt die Vermittlung ausländischer Arbeitskräfte einzustellen, schien eine logische und folgerichtige Entscheidung zu sein. Sie signalisierte außerdem: „Gastarbeiter“-Beschäftigung ist tatsächlich nur eine vorübergehende Erscheinung, die vom Bedarf der deutschen Wirtschaft abhängt. Sind die Voraussetzungen nicht mehr gegeben, verlassen die Ausländer Deutschland wieder, so der von der Politik genährte Glaube. „Bonn stoppt Zustrom von Gastarbeitern“, titelte etwa die Rheinpfalz nach der Verhängung des Anwerbestopps. Doch diese Annahme sollte sich nur auf den ersten Blick bestätigen.
Zum Zeitpunkt des Anwerbestopps befanden sich 528.000 türkische, 466.000 jugoslawische, 409.000 italienische, 268.000 griechische und 179.000 spanische Arbeitskräfte in Deutschland. Von denen kehrten in den folgenden Jahren tatsächlich Hunderttausende in die Heimat zurück, allerdings gestaltete sich diese Rückwanderung äußerst unterschiedlich. Während mehr als 40 Prozent der Spanier und Italiener Deutschland verließen, blieb die Zahl der Türken nahezu gleich. Diese wußten nämlich: Verlassen sie Deutschland erst einmal, ist eine spätere Rückkehr kaum möglich. Gerade bei den Türken förderte der Anwerbestopp also die Entscheidung für einen dauerhaften Verbleib.
Zum wichtigsten Einwanderungstor, bevor später die Asylflut einsetzte, wurde nunmehr der sogenannte Familiennachzug. Und der wurde durch eine Reihe politischer Fehlentscheidungen auch noch angeheizt. Bereits Ende 1973 zahlte Deutschland an 868.000 im Ausland lebende Kinder von Gastarbeitern Kindergeld. Zum 1. Januar 1975 wurde das Kindergeld für in Deutschland lebende Kinder erhöht, für die im Ausland blieb der Satz gleich. Die Folge: Immer mehr Ausländer holten ihre Kinder nach Deutschland. Gänzlich mißlangen auch die Versuche, mit Stichtags- und Wartezeit-Regelungen für die Arbeitserlaubnis von Familienangehörigen eine Einwanderung weniger attraktiv zu machen.
Hinzu kam die Wühlarbeit der Migrationslobby. So wurde die Politik unter Druck gesetzt von „Wohlfahrtsorganisationen, die im Sinne ihrer Klientel jede Restriktion ablehnten, unterstützt von Juristen, die eine Orientierung der Ausländerpolitik an ‚Belangen der Bundesrepublik Deutschland‘ als rechtsstaatlich unzulässig ansahen“. Dies formuliert der Politologe Dr. Stefan Luft in seinem Buch Abschied von Multikulti. Konsequenz: Die Zahl der ausländischen Arbeitskräfte veränderte sich kaum, die der ausländischen Wohnbevölkerung stieg und stieg – mit den bis heute sichtbaren Auswirkungen. Stefan Luft bilanziert: „Unentschlossenheit und Widersprüchlichkeit kennzeichnete die Politik der 70er Jahre nach dem Anwerbestopp.“
Dieser Artikel erschien in ZUERST! Ausgabe 10/2013
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Foto: Wikimedia/Bundesarchiv/Jürgen Ludwig