ZUERST!-Reportage: „Leben von der Substanz“ – Deutschlands Infrastruktur zerfällt

21. September 2017
ZUERST!-Reportage: „Leben von der Substanz“ – Deutschlands Infrastruktur zerfällt
Wirtschaft
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Foto: Symbolbild

Deutschlands Infrastruktur: Während sich Finanzminister Wolfgang Schäuble über Steuereinnahmen auf Rekord­niveau freuen kann, befinden sich Deutschlands Straßen vielerorts in einem erbärmlichen Zustand

Vor wenigen Monaten wurde es im Vorfeld der Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen deutlich: Neben der inneren Sicherheit und dem Zu­stand des Schulsystems war der Zustand der öffentlichen Infrastruktur ein The­ma, das vielen Bürgern auf den Nägeln brennt. Vor allem im Ruhrgebiet sehen sich ewig klamme Kommunen wie Oberhausen, Duisburg oder Bochum bereits seit Jahren immer weniger in der Lage, Schlaglöcher, Risse und Spurrillen auszubessern.

Der Zustand der Leverkusener Rhein­brücke hat inzwischen sogar bundesweit für Schlagzeilen gesorgt. Die in den 1960er Jahren gebaute Brücke ist mitt­lerweile so baufällig, daß sie nur noch beschränkt befahren werden darf: Für alle Fahrzeuge wurde die Höchstgeschwindigkeit auf Tempo 60 begrenzt. Schwere Fahrzeuge dürfen die Brücke überhaupt nicht mehr überqueren. Nach mehreren Reparaturversuchen strebt das Land Nordrhein-Westfalen nun an, bis 2025 eine vollständig neue Brücke zu bauen.

Auch ein Blick nach Berlin ist auf­schlußreich: Dort ist vor kurzem ein Streit darüber entbrannt, ob der Sanie­rungsbedarf an den Schulgebäuden der Hauptstadt „nur“ 4,2 Milliarden Euro beträgt oder doch eher bei mehr als sie­ben Milliarden liegt. Schon bei der letz­ten Wahl zum Berliner Abgeordneten­haus im Herbst 2016 war der Sanie­rungsstau bei den Schulen ein wichtiges Thema.

Das Empfinden vieler Bürger, daß sich der Zustand der Infrastruktur in Deutschland wesentlich verschlechtert hat, läßt sich auch mit Untersuchun­gen belegen. Zwar gibt es Analysen, die dem Standort Deutschland immer noch eine exzellente Infrastruktur be­scheinigen, allerdings tauchen immer öfter auch Warnzeichen auf. So belegte Deutschland im „World Competitive Index“ des Weltwirtschaftsforums bei der Qualität von Straßen, Schienen-und Wasserwegen zuletzt nur noch ei­nen der hinteren Plätze. Hinter Staaten wie Portugal oder Taiwan landete die Bundesrepublik Deutschland nur noch auf Rang 16.

Auch in einer Studie, die von der Unternehmensberatung McKinsey im letzten Jahr vorgelegt wurde, schnitt Deutschland nur als eines der Schluß­lichter ab. Laut McKinsey investierte Berlin zwischen 2008 und 2013 im Vergleich der G20-Industrieländer mit durchschnittlich nur zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts prozentual am wenigsten in seine Infrastruktur. Nötig wären aus Sicht der Unternehmensberatung allerdings Investitionen von jährlich zusätzlich 0,4 Prozent der deut­schen Wirtschaftsleistung. Um den tat­sächlichen Bedarf abzudecken, würde dies nach den vorgelegten Berechnun­gen insgesamt 160 Milliarden Euro an zusätzlichen Investitionen für Trans­portwege, Energie, Wasser und Tele­kommunikation bedeuten.

Grundsätzlich scheint die Politik das Problem inzwischen erkannt zu haben, ob aber konsequent nach einer Lösung gesucht wird, ist eine offene Frage: „Ob­wohl das Bewußtsein klar vorhanden ist, daß mehr für die Infrastruktur getan werden muß, sind die Investitionen nach einem kurzen Hoch im Jahr 2009 zurückgegangen. Besonders die Kom­munen haben ihre Investitionen reduziert“, so die ernüchternde Einschät­zung des McKinsey-Analysten Jürgen Schröder.

Die finanzielle Situation vieler Kommunen wird sich in absehbarer Zeit kaum verbessern. Allerdings plant die Bundesregierung, wieder etwas mehr Geld für das deutsche Verkehrs­netz vorzuhalten. Bis zum Jahr 2030 sollen im Zuge des Verkehrswegeplans rund 270 Milliarden Euro in Projekte investiert werden. Im Schnitt werden damit pro Jahr etwa 19 Milliarden Euro fließen.

Zwei Umstände relativieren aller­dings das scheinbar so großangelegte Vorhaben: Deutschland hat jahrelang viel zuwenig in seine Infrastruktur investiert. Es ist dadurch ein immenser Sanierungsstau entstanden. Zudem sind inzwischen auch die Preise in der Bau­wirtschaft stark angestiegen. So kosten nach Berechnungen der Welt am Sonn­tag zum Beispiel Leistungen im Straßen­bau heute ein Drittel mehr als im Jahr 2005. Hält die Europäische Zentralbank an ihrer bisherigen ultralockeren Geld­politik fest, droht sich dieses Phänomen sogar noch zu verstärken. Am Ende könnte weit weniger umgesetzt werden, als die Summe von 270 Milliarden zu­nächst suggeriert. Gewissermaßen als Nebeneffekt sind die drastischen Steigerungen der Baupreise dazu geeignet, Zweifel an der offiziell verkündeten Inflationsrate in Deutschland und der Euro-Zone insgesamt zu wecken.

Die Politik hat in den vergangenen Jahren allerdings nicht nur zuwenig Geld für die Infrastruktur bereitgestellt. Auch an der Verwendung der knappen Mittel wird regelmäßig Kritik laut. Zu beobachten ist ein gewisser Hang, eher prestigeträchtige Neubauprojekte in Angriff zu nehmen, statt sich um die dringend notwendige Modernisierung der vorhandenen Infrastruktur zu küm­mern.

Unter diesem Gesichtspunkt ist etwa beim Mammutprojekt „Stuttgart 21“ Skepsis angebracht. Das Vorhaben zum Bau eines unterirdischen Durch­gangsbahnhofes in der baden-württembergischen Landeshauptstadt bindet für Jahre erhebliche finanzielle Ressourcen, die für Verkehrsprojekte in der Fläche Baden-Württembergs nicht mehr zur Verfügung stehen. Wie bei der Hamburger Elbphilharmonie oder dem neuen Berliner Großflughafen BER ist zudem auch bei „Stutt­gart 21“ eine Kostenexplosion zu be­obachten.

Eine Rolle spielt dabei nicht nur, daß der Euro stetig an Kaufkraft verliert: Po­litiker haben sich auch angewöhnt, an­fängliche Kostenkalkulationen „schön­zurechnen“, wenn sie für ihre Lieblings­projekte in der Öffentlichkeit Akzep­tanz suchen. Tatsächlich wäre aber ein sehr effizienter Umgang mit den Steuergeldern nötig. Nach Jahrzehnten der Nutzung ist Deutschlands Infrastruktur vielerorts sanierungsreif.

So ist ein beachtlicher Anteil der rund 39.000 Brücken, die über Auto­bahnen und Bundesstraßen führen, in den 1960er und 1970er Jahren entstan­den. Speziell die seinerzeit gebauten Spannbetonbrücken bedürfen nach Jahrzehnten der intensiven Nutzung vielerorts einer Sanierung. Insgesamt ist das Vorhaben der Brückensanierun­gen ein Wettlauf gegen die Zeit: Die Zahl der sanierungsreifen Fälle wächst stärker als die Zahl der instandgesetz­ten Brücken. Rund fünf Prozent der deutschen Brücken gelten mittlerweile sogar als regelrechte Problemfälle, die mitunter für Autos und Lkws gesperrt werden müssen. Allein der Sanierungs­bedarf an Brücken wird deutschland­weit auf einen zweistelligen Milliarden­bereich geschätzt.

Inzwischen werden immer öfter Be­fürchtungen laut, der Bund könnte sich langfristig seiner Aufgabe entledigen wollen, für die Instandhaltung und den Ausbau von wichtigen Teilen der Infra­struktur aufkommen zu müssen. Anlaß für diesen Verdacht ist der Plan zur Gründung einer Infrastrukturgesell­schaft im Zuge der jüngsten Bund-Länder-Finanzreform. Im Gegenzug (…)

Um den Kritikern den Wind aus den Segeln zu nehmen, haben sich Union und SPD auf zusätzliche Privatisie­rungsschranken im Grundgesetz ver­ständigt. Demnach soll eine Veräuße­rung der Infrastrukturgesellschaft und eine Privatisierung der Autobahnen ausgeschlossen sein. Zudem soll sich die Gesellschaft nicht eigenständig ver­schulden dürfen. Kritiker sehen trotz­dem die Gefahr, daß dies der Einstieg zu einer Privatisierung der deutschen Au­tobahnen sein könnte. So kritisiert die Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht, daß die Formulierung zu Partnerschaf­ten mit der Privatwirtschaft zu schwam­mig sei. Mehr noch, Wagenknecht sieht eine Täuschung der Öffentlichkeit durch die große Koalition und spricht sogar von einer „Raubplünderung auf Kosten der Steuerzahler“.

Tatsächlich sind in den Plänen für die Infrastrukturgesellschaft „Hintertüren“ erkennbar: Die Regierungskoalition hat sich darauf geeinigt, daß Investoren im Rahmen der öffentlich-privaten Partnerschaften (ÖPP) Auto­bahnprojekte finanzieren sollen, wenn die Abschnitte nicht länger als 100 Kilo­meter lang sind. Einige Beobachter se­hen zudem die Gefahr, daß die Auto­bahngesellschaft später einmal in eine Aktiengesellschaft umgewandelt wird.

Der Bundesrechnungshof steht den Plänen für eine Autobahngesellschaft schon länger skeptisch gegenüber. Kay Scheller, der Präsident des Rechnungs­hofes, hat im Vorfeld des neuen Gesetzes zum einen vor einem Verlust von parlamentarischen Kontrollrechten, aber auch der Prüfungsrechte durch den Bundesrechnungshof gewarnt. Darüber hinaus sehen auch die Rechnungsprüfer die Gefahr einer Privatisierung der deutschen Autobahnen: „Der Schutz­zaun gegen eine Privatisierung ist löch­rig“, so Scheller. Konkret gewarnt wurde in diesem Zusammenhang vor der Ge­fahr, daß private Teilnetze entstehen, auf die weder Bundesverwaltung noch Parlament direkten Zugriff haben. Vor­stellbar sei zudem, daß Teilnetze, die im Rahmen von öffentlich-privaten Part­nerschaften gebaut wurden, langfristig zusammengelegt werden. Gleichsam durch die Hintertür könnte so ein pri­vates, mautfinanziertes Autobahnnetz in Deutschland entstehen.

Große Skepsis ist bei den Rech­nungsprüfern auch gegenüber den öf­fentlich-privaten Partnerschaften zu spüren. Das vermeintliche Wundermit­tel zur Modernisierung der deutschen Infrastruktur hat sich in der Praxis schon oft als ein Unterfangen heraus­gestellt, das den Steuerzahlern zusätzliche Kosten aufbürdet. Bereits im Jahr 2013 hatte der Bundesrechnungshof beanstandet, daß bei fünf von sechs Autobahnen, die in öffentlich-privater Partnerschaft gebaut wurden, Mehrkosten in Milliardenhöhe entstanden waren.

(…)

Anteil an dieser Fehlentwicklung hatte ein Mix von mehreren Faktoren: Zum ei­nen war den Investoren durch staatliche Garantien das Risikobewußtsein genommen worden. Auf der anderen Seite konnten sich Politiker dafür feiern lassen, daß sie mit großen Bauprojekten für Ar­beit und bessere Verkehrsanbindungen sorgen. Heute, gut zwanzig Jahre später, hat die spanische Regierung ein Viertel der insgesamt 2.500 Kilometer an maut­pflichtigen Autobahnen wieder verstaat­licht, sprich: herausgekauft. Nutznießer der Aktion sind die spanischen Baugiganten, die zunächst die Straßen gebaut und anschließend über Tochterfirmen betrieben haben. Die vor Jahren ausgehandelten Verträge hatten den Betrei­bern tatsächlich das Recht eingeräumt, die Mautstrecken aufgeben zu können, sofern sie sich nicht rentabel betreiben lassen. Vor etwa zwanzig Jahren hatten spanische Politiker die Projekte als „von höchstem öffentlichen Interesse“ angepriesen. Welche Kosten auf die Steuer­zahler in Spanien durch die Pleiteprojek­te zukommen, ist noch nicht absehbar.

Auch die Pläne der Bundesregie­rung zur Einführung einer Pkw-Maut scheinen nicht der Weisheit letzter Schluß zu sein. Zur Kasse gebeten wer­den die Bürger mit den Mautsystemen gleich mehrfach. Deutschlands Auto­bahnen wurden über das allgemeine Steueraufkommen nämlich bereits von den Bürgern finanziert. Zudem spülen verkehrsbezogene Steuern und Abgaben viel Geld in die Kasse des Staa­tes. So kassiert der deutsche Fiskus beispielsweise auf jeden Liter Benzin gut 70 Prozent an Steuern (Mineralöl­steuer, Ökosteuer, Mehrwertsteuer). Etwas weniger kräftig langt der

Finanz­minister zumindest bislang beim Die­sel zu. Hinzu kommen noch Belastun­gen wie die Kfz-Steuer. Zudem zeich­net sich inzwischen ab, daß die deut­sche Pkw-Maut nur ein Übergangsmodell darstellen könnte. Auf längere Sicht droht nämlich, daß Autofahren in weiten Teilen Europas nochmals deutlich teurer wird.

Die EU-Kommission beschäftigt sich schon seit längerem mit Plänen für eine kilometerabhängige europäische Autobahnmaut. Derzeit treibt Brüssel derartige Pläne intensiv voran. Der aktuelle Zeitplan sieht vor, daß sich die EU-Mitgliedsländer bis zum Jahr 2019 auf ein einheitliches Mautsystem einigen sollen. Begründet wer­den die Brüsseler Pläne mit dem „Um­weltschutz“. Es heißt, daß bei einem pauschalen Mautbetrag wie bei dem Modell in Österreich der Anreiz zur Schonung der Umwelt fehlen würde. Statt dessen schwebt der EU-Kommis­sion offenbar vor, bereits vorhandene automatische Erfassungssysteme für Lkws auf alle Fahrzeuge auszuweiten und eine kilometerabhängige Maut einzuführen. In Brüssel wird dabei auch ganz ausdrücklich auf die Kosten für den Ausbau der Infrastruktur hin­gewiesen.

Diese EU-Pläne haben das Potential, eine Eigendynamik zu entwickeln: Erst einmal eingeführt, könnte sich eine eu­ropaweite Autobahnmaut als ein Ein­stieg für ein flächendeckendes Bezahl­modell entpuppen, das langfristig alle Straßen betrifft. Erfahrungsgemäß sind nach der Einführung einer Autobahn­maut Umgehungseffekte zu erwarten: Ein Teil der Autofahrer wird vermutlich statt der Autobahnen auf andere Stra­ßen ausweichen, die nicht mautpflich­tig sind. Die zu erwartenden negativen Folgen, wie etwa Staus oder verstärkter Verschleiß, könnten dann schnell als Begründung herangezogen werden, warum die Maut nicht nur die Autobahnen betreffen soll, sondern auf weitere Teile des Straßennetzes ausgedehnt werden müsse. Am Ende der Entwicklung könnte dann ein Mautsystem stehen, bei dem die Autofahrer auf jeder Straße zur Kasse gebeten werden. (Norman Hanert)

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