Gigantischer Kollektivverrat der politischen Führung am eigenen Volk

14. Oktober 2016
Gigantischer Kollektivverrat der politischen Führung am eigenen Volk
Manfred Kleine-Hartlage
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Foto: Symbolbild

Von 1961 bis 1992 existierte im niedersächsischen Salzgitter eine Behörde der besonderen Art, die „Zentrale Erfassungsstelle der Landesjustizverwaltungen“. Ihre Zwecke waren die Erfassung von Regierungskriminalität und damit verbundene strafrechtliche Vorermittlungen gegen Funktionsträger der DDR, mithin die juristische Vorbereitung auf den Tag 1 nach dem Sturz des SED-Regimes.

Theoretisch hätte man selbstverständlich auch Strafanzeigen bei den zuständigen Staatsanwaltschaften der DDR einreichen können. Faktisch wäre es – damals wie heute und in der DDR wie in jedem anderen Staat – weltfremd gewesen zu erwarten, daß irgendeine Strafverfolgungsbehörde gegen die politische Klasse ihres Landes ermittelt und die gesamte Staatsführung hinter Gitter bringt. Einzelne Politiker – ja, die können nicht nur de jure, sondern auch de facto belangt werden. Mit der Ahndung organisierter Staatskriminalität dagegen ist jede Justiz überfordert, solange die betreffende politische Klasse an der Macht ist, und sei es nur, weil auch Justizangehörige Karriere machen möchten und man in keinem Land der Welt eine Karriere im Staatsdienst gegen die Machthaber machen kann. Auch nicht in der heutigen Bundesrepublik Deutschland.

Trotzdem waren die DDR-Machthaber über die Existenz der Erfassungsstelle beunruhigt und forderten immer wieder ihre Abschaffung. Obwohl sie selbst die Gesetze für ihren Machtbereich schrieben, war ihnen anscheinend klar, daß viele ihrer Maßnahmen sogar nach dem Maßstab dieser ihrer eigenen Gesetze illegal und sie selbst daher nur so lange vor Strafverfolgung sicher waren, wie sie sich an der Macht halten konnten.

Wie berechtigt die Furcht vor der Justiz gewesen ist, stellte sich nach ihrem Sturz heraus, als zahlreiche größere und kleinere Funktionsträger der DDR für Akte von Staatskriminalität verurteilt wurden. Es ist durchaus ein Ruhmesblatt in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, daß sie sich nicht durch rechtsförmig verbrämte politische Willkür im Stil der Nürnberger Prozesse besudelt, sondern die Beschuldigten auf der Basis des zur Tatzeit am Tatort geltenden Rechts, also der Gesetze der DDR, in fairen Prozessen zur Verantwortung gezogen hat.

Demgemäß wird es auch nur recht und billig sein, ihren eigenen Funktionsträgern, also der derzeitigen politischen Klasse, nach deren Entmachtung – die wohl nicht mehr ewig auf sich warten lassen wird – denselben Schutz rechtsstaatlicher Verfahren zu gewähren, wenn es darum gehen wird, heutige Regierungskriminalität aufzuarbeiten und die Verantwortlichen ihrer gerechten Strafe zuzuführen.

Zu dieser Art von Kriminalität gehören – unter anderem – Akte des Hoch- und Landesverrats, Untreue zu Lasten des Steuerzahlers im großen wie im kleinen Stil, gewaltsame Unterbindung legaler politischer Veranstaltungen (strafbar gemäß Paragraph 21 Versammlungsgesetz), organisierte Einschleusung von Ausländern (strafbar gemäß Paragraph 96 Aufenthaltsgesetz) und so weiter und so fort – selbstverständlich auch alle damit gegebenenfalls verbundenen Arten von Androhung, Anstiftung, Beihilfe und gemeinschaftlicher Täterschaft. Zu prüfen wären auch die Rechtsfolgen der mittelbaren Konsequenzen dieser Art von Kriminalität, etwa die Frage, inwiefern Schleuser in Staatsfunktionen für Straftaten der von ihnen eingeschleusten Personen straf- und zivilrechtlich belangt werden können.

Gewiß ist Schuld im moralischen Sinne nicht dasselbe wie strafrechtliche Schuld, und niemand sollte enttäuscht sein, wenn manch einer, der Strafe moralisch verdient hätte, am Ende straffrei davonkommt. Die Alternative dazu wäre eine totalitäre Sieger- und Rachejustiz und ein Staat, in dem niemand leben möchte, der die gegenwärtigen Machthaber gerade wegen ihrer Neigung zu totalitären Praktiken gestürzt sehen möchte.

Man sollte sich allerdings darüber im klaren sein, daß solche Prozesse nicht aus dem Stand heraus improvisiert werden können, sondern jahrelanger intensiver Vorbereitung bedürfen: Die über dreißigjährige Arbeit der Erfassungsstelle in Salzgitter hat zweifellos dazu beigetragen, daß die Strafverfolgung nach der Wende zügig in die Wege geleitet werden konnte.

Da an eine staatliche Alimentierung heute nicht mehr zu denken ist, sollten zahlungskräftige Privatleute eine solche Ermittlungsstelle, hauptamtlich besetzt von wenigstens einem hochkarätigen Juristen, auf privater Basis einrichten und finanzieren: zum einen, um staatliche Funktionsträger vor der bedenkenlosen Mißachtung des Rechts zu warnen; zum anderen, damit sie gegebenenfalls wenigstens im nachhinein bestraft werden.

Es wäre doch schade, wenn der gigantische Kollektivverrat der politischen Führung am eigenen Volk ungesühnt bliebe, nur weil niemand sich dafür zuständig fühlte, juristische Vorsorge zu treffen: für den Tag 1 danach.

Manfred Kleine-Hartlage ist freier Publizist.

5 Kommentare

  1. guguk sagt:

    Die deutsche Justiz hat doch selbst egnug Dreck am Stecken!
    Sie ist durchwegs korrupt und kein bischen besser als die Justiz in einem Bananenstaat.

  2. Marten Oberberg sagt:

    Großartige Idee!

  3. Zack sagt:

    Diese „Erfassungsstelle“ war doch auch nur eine Alibieinrichtung?
    Wie oft ist das Grundgesetz, das nie vom dtsch. Volk gebilligt worden ist, verletzt worden? Anhörungs-, Gleihheitsgrungsatz- was sind sie wert?
    Wahlgesetz ungültig (B.Verf.Ger.!).

  4. johnulrich sagt:

    Ich (*1947 in DD) habe zwar von der Existenz der besagten Stelle zur Erfassung von DDR-Straftaten in Salzgitter gehört, kenne aber keinen
    einzigen Fall, einer juristischen Aufarbeitung dieser Straftaten nach
    1989! Honnecker und Frau konnten unbehelligt Deutschland verlassen und
    bekamen vermutlich noch, bestimmt nicht unerhebliche Rentenzahlungen
    aufgenötigt!
    Es sind mehr als 1000 Mauertote zu beklagen, wobei sich die tatsächli-
    chen Mörder auf den Schießbefehl beriefen! NUR gemordet hat nicht Hon-
    necker oder Mielke, sondern der, der den Finger am Abzug durchdrückte!
    Auch wenn man den Einen oder Anderen Justiztoten später „rehabilitier-
    te“, wurde keiner der Erschossenen oder Geköpften, die eiligst in Kre-
    matorien, z.B. in Dresden-Tolkewitz, verbrannt wurden, wieder lebendig!

  5. Hans Schneider, Canada sagt:

    es wird wohl noch einen zweiten 17. Juni geben muessen bevor sich diese Lage aendert.

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