Lukrative Betreuungsindustrie: Immer mehr „Inobhutnahmen“

31. Dezember 2015
Lukrative Betreuungsindustrie: Immer mehr „Inobhutnahmen“
Kultur & Gesellschaft
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Foto: Symbolbild

Köln. Alle reden von der „Flüchtlings“-Krise und den damit verbundenen Kosten – dabei wird gerne übersehen, daß ein anderer Bereich des Sozialsektors ebenfalls ein boomendes Geschäft ist. Die Rede ist von Kindern und Jugendlichen, die in staatlicher Obhut landen. Auch hier explodieren die Zahlen – und die Kosten.

Einer aktuellen Studie des Kölner Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) zufolge haben sich die Ausgaben für „Inobhutnahmen“ in den letzten zehn Jahren auf inzwischen jährlich neun Milliarden Euro fast verdoppelt. Ein Bundesland gibt laut der Studie pro Kind und Jahr sage und schreibe 160.000 Euro aus.

Tatsache ist, daß Kinder und Jugendliche in Deutschland immer häufiger bei Pflegeeltern oder im Heim landen. Waren es noch vor zehn Jahren, 2005, knapp 26.000 Minderjährige, die von den Jugendämtern in Obhut genommen wurden, so lag diese Zahl 2014 schon bei mehr als 48.000. Dabei gibt es erhebliche Unterschiede zwischen den Bundesländern. In Niedersachsen etwa, dokumentiert die IW-Studie, fallen nur fünf sogenannte „Verfahren zur Gefährdungseinschätzung“ pro tausend unter 18jährigen an, während es in Mecklenburg-Vorpommern knapp 17 Fälle und im Stadtstaat Bremen sogar 23 Fälle sind. Auch die Kosten pro Fall gehen regional sehr stark auseinander.

Alles in allem gibt der Staat für die Kinder- und Jugendhilfe fast 36 Milliarden Euro pro Jahr aus. Den größten Anteil in der Kinder- und Jugendhilfe machen die Betreuungskosten in Kitas und Horten aus. Während diese Angebote allen Familien offenstehen, dienen die Hilfen zur Erziehung – die neben Heimunterbringung auch Erziehungsberatung und andere Familien unterstützende Angebote umfassen – dem Schutz gefährdeter Minderjähriger und sind für jene Familien gedacht, die Probleme haben, ihren Nachwuchs allein großzuziehen.

IW-Mitautorin Marie Möller macht darauf aufmerksam, daß die Erziehungshilfe ein staatlich finanzierter Wachstumsmarkt ist, dem es an Transparenz und Kontrolle fehlt – ganz ähnlich übrigens wie in der „Flüchtlings“- und Asyl-Industrie. Möller wörtlich: „Es geht um sehr viel Geld, das hier von den Anbietern verdient wird.“ Für den Steuerzahler sei es wichtig, zu wissen, wie mit dem Geld umgegangen wird.

Die Ausgaben für den Kinderschutz gehen zwischen den einzelnen Bundesländern stark auseinander. In Baden-Württemberg und Bayern werden durchschnittlich für jeden unter 18jährigen rund 300 Euro aufgewendet. Beim Spitzenreiter Bremen liegt der Wert mit fast 1.200 Euro viermal so hoch. Viel Geld wird auch in Hamburg mit durchschnittlich 810 Euro pro Kind ausgegeben, ebenso im Saarland (744 Euro) und Berlin (707 Euro).

Auffallende Unterschiede gibt es auch bei der Häufigkeit, mit der die Jugendämter Alarm schlagen. Alles in allem scheint die Sensibilität für Verdachtsfälle zu steigen. So wurde 2013 etwa in Bremen und Berlin 23-mal beziehungsweise 20-mal je 1000 Minderjähriger ein sogenanntes „Verfahren zur Gefährdungseinschätzung“ in die Wege geleitet. Insgesamt gibt es in Deutschland rund 120.000 solcher Verfahren pro Jahr. Aber nur bei einem Drittel ergibt die Überprüfung am Ende tatsächich eine Kindeswohlgefährdung, die häufig eine Unterbringung außerhalb der Familien zur Folge hat. Der Großteil der Kinder, die in Obhut genommen werden, ist älter als zwölf Jahre.

Aus der IW-Studie geht auch hervor, daß es bei den Ausgaben pro tatsächlichen Gefährdungsfall große Kostenunterschiede gibt. Niedersachsen etwa gibt pro Fall und Jahr 160.000 Euro aus, Thüringen dagegen nur 40.000 Euro. Auch so unterschiedliche Regionen wie Berlin, Bayern und Mecklenburg-Vorpommern sind mit etwa 50.000 Euro eher kostengünstig.

Bei den unterschiedlichen Kinderschutzmaßnahmen sind die Kosten pro Fall ebenfalls extrem verschieden. Für ein Kind, das im Heim untergebracht wird, verzeichnet Nordrhein-Westfalen mit knapp 36.000 Euro pro Fall die höchsten Ausgaben, dicht gefolgt von Niedersachsen.

Für Ökonomen wie die Autoren der IW-Studie besteht in puncto Kosten das größte Problem im sogenannten Jugendhilfeausschuß. In diesem zentralen Steuerungsgremium des Jugendamtes werden Entscheidungen über die Vergabe erheblicher Geldmittel getroffen – doch genau dort sitzen auch die großen Anbieter sozialer Dienstleistungen wie etwa die Diakonie, die Caritas oder die Arbeitgeberwohlfahrt. Das IW kritisiert denn auch: „Freie Träger sind also an Entscheidungen beteiligt, die sie selbst betreffen – sie können dafür sorgen, daß sie selbst Aufträge erhalten.“

Allein die stationäre Unterbringung von Kindern bringt den freien Trägern Einnahmen von rund neun Milliarden Euro jährlich. „Vor diesem Hintergrund stimmen die hohen Wachstumsraten bei der Inobhutnahme mit 65 Prozent (seit 2005) und bei der Unterbringung in Einrichtungen mit 20 Prozent (seit 2008) bedenklich“, fällt denn auch den IW-Autoren auf. Und dafür gibt es einen naheliegenden Grund: für die freien Träger ist es deutlich lohnender, wenn die Kinder in festen Einrichtungen untergebracht würden. Außerdem wird weder überprüft, ob die Leistungen stattfinden, noch, ob sie wirklich gut und zielführend seien, kritisiert das IW.

Mehr Kontrolle in der Kinder- und Jugendhilfe sieht das Institut auch vor dem Hintergrund des anhaltenden „Flüchtlings“desasters geboten. Denn die Einreisen sogenannter „unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge“ (umF´s) haben die Zahl der Inobhutnahmen zuletzt stark steigen lassen, auf gut 11.600 Fälle im letzten Jahr. Und für das laufende Jahr 2015 ist ein weiterer starker Anstieg wahrscheinlich. 2009 hatten es die Jugendämter gerade einmal mit etwas weniger als 2000 Minderjährigen zu tun. (mü)

Ein Kommentar

  1. Unser Verein Kinder sind Menschen e.V. hat bereits mehrfach auf die finanzielle Seite des Problems aufmerksam gemacht. In dem Buch der Einzelfallmythos wird anhand offizieller Statistiken belegt, dass es hier auch einen Arbeitsmarktpolitischen Aspekt gibt. Was ich in dem Artikel vermisse, ist ein Hinweis auf die guten Geschäfte, die die Gutachter machen. Gutachten sind inzwischen obligatorisch. Minimum eine viertel Milliarde beträgt hier das Umsatzpotential.

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