„Nationales Desaster“ – Der Historiker Stefan Scheil über den „Tag der Befreiung“

7. November 2015
„Nationales Desaster“ – Der Historiker Stefan Scheil über den „Tag der Befreiung“
Geschichte
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Foto: Symbolbild

„Tag der Befreiung“: Historiker Dr. Stefan Scheil im ZUERST!-Gespräch über die Art und Weise der Erinnerung an den 8. Mai 1945 in der Bundesrepublik Deutschland

Stefan Scheil, Historiker, 1963 in Mannheim geboren, Studium der Geschichte und Philosophie in Mannheim und Karlsruhe, Promotion zum Dr. phil. 1997 in Karlsruhe. Er forscht zur Vorgeschichte und Eskalation des Zweiten Weltkriegs sowie zum politischen Antisemitismus in Deutschland und schreibt als freier Mitarbeiter für verschiedene Wochenzeitungen. Zu seinen letzten Buchveröffentlichungen gehören Ribbentrop. Oder: Die Verlockung des nationalen Aufbruchs. Eine politische Biographie (2013) und Weserübung gegen Operation Stratford. Wie die Alliierten 1940 den Krieg nach Skandinavien trugen (2015).

 

Herr Dr. Scheil, Bundespräsident Joachim Gauck erinnerte am 70. Jahrestag der deutschen Niederlage im Zweiten Weltkrieg vor allem an das Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen. Wir Deutschen seien heute dankbar für die „Befreiung“ durch die alliierten Kriegsgegner, so Gauck. Wurden die Festansprachen deutscher Politiker insgesamt den historischen Ereignissen um und nach dem 8. Mai 1945 gerecht?

Scheil: So, wie ich den Kenntnisstand der ZUERST!-Leser einschätze, darf ich das als rhetorische Frage verstehen. Kein ernstzunehmender Mensch in Deutschland hätte 1945 und auch noch Jahrzehnte danach in dieser Art so ausschließlich von Befreiung gesprochen, das taten ja nicht einmal die Alliierten selbst. Aber natürlich liegt Gauck insofern richtig, als sich der größere Teil der deutschen Öffentlichkeit derzeit der Befreiungsthese angeschlossen hat.

Der Begriff „Befreiung“ hat sich im gesellschaftspolitischen Mainstream für den Tag der Kapitulation der deutschen Wehrmacht durchgesetzt. Fühlte sich die Mehrheit der Deutschen am 8. Mai 1945 wirklich befreit?

Scheil: Das ist sehr unwahrscheinlich und betraf – soweit vorhanden – vorwiegend die Befreiung vom unmittelbaren Druck der Kriegssituation und von den damit verbundenen Gefahren. Allerdings setzten dann an vielen Orten in Deutschland sofort viele willkürliche alliierte Maßnahmen ein, die nach heutigem Maßstab als schwerste Verstöße gegen das Völkerrecht anzusehen sind. Insofern erhielten auch diese Befreiungsgefühle bald schwere Dämpfer. Erst der Kalte Krieg und die wirtschaftlichen Erfolge der 1949 gegründeten Bundesrepublik Deutschland begründeten dann den Mythos der Befreiung erst richtig.

Was geschah am 8. Mai und danach? Wie sah die „Befreiung“ im Deutschland der „Stunde Null“ tatsächlich aus?

Scheil: Die „Stunde Null“ wird inzwischen in der Forschung als bewußtes Konzept der westlichen Besatzungsmächte gesehen. Zunächst wurden auf einen Schlag sämtliche bisher erschienenen Zeitungen und sonstigen Medien eingestellt, der Lehrbetrieb an Universitäten unterbrochen, Millionen Bücher eingestampft und auf allen Ebenen ein radikaler Bruch herbeigeführt. Das dauerte in einzelnen Bereichen mehrere Jahre lang an, bis langsam und kontrolliert neue Aktivitäten in diesen Bereichen zugelassen wurden. Es sollte einen Neustart der deutschen Gesellschaft geben.

Was waren die Kriegsziele der alliierten Gegner Deutschlands? Wollten diese „Deutschland befreien“?

Scheil: Kriegszieldiskussionen unter den Alliierten verliefen lang und kompliziert. Die Alliierten waren sich keineswegs einig und verfolgten teilweise auch Interessen, die gegen andere Alliierte gerichtet waren. In den britisch-amerikanischen Verhandlungen im Sommer 1941 zum Beispiel zielte die Washingtoner Regierung erfolgreich auf die Abschaffung von Zollschranken des britischen Empire, was als entscheidendes Ziel für eine Nachkriegsordnung nach US-Vorstellungen angesehen wurde und als solches bereits seit 1932 verfolgt worden war. Es gab allerdings von Anfang an gegenüber Deutschland recht radikale Pläne für eine völlige Umgestaltung des Landes. Diese Vorhaben fielen zum Beispiel in Washington und Moskau naturgemäß deutlich unterschiedlich aus. Letztlich sollte Deutschland kompatibel zu den jeweils eigenen weltanschaulichen Vorgaben gemacht werden.

Wie konnte es zur geschichtspolitischen Umdeutung des 8. Mai 1945 in der Bundesrepublik Deutschland kommen?

Scheil: Man kann mit einigem Grund annehmen, daß die bundesdeutschen Eliten den von ihnen regierten Staat hier mit einer Mischung aus Kalkül und Emotion in diese Rolle gebracht haben. Das Kalkül bestand zunächst in der rückhaltlosen Übernahme der Geschichtsdeutung der Siegermächte, was zu beachtlichem außenpolitischen Spielraum an anderer Stelle führte. Dazu kam die Emotion, denn die Betroffenheit über das, was dem nationalsozialistischen Deutschland an Verbrechen zugeschrieben wird, ist weltweit in den letzten Jahrzehnten stark gewachsen, man könnte sagen, deutlich über das Kalkül und das Wissen um die Zeitumstände hinaus. In der Summe sieht sich die Führung der BRD nun gewissermaßen in ein Wächteramt gedrängt, in dem die vorbehaltlose Anerkennung und der stete Ausbau der Befreiungsthese einen geradezu zivilreligiösen Charakter einnehmen.

Was geschieht heute mit deutschen Historikern, die auf jene Deutschen hinweisen, die sich am 8. Mai 1945 und danach nicht „befreit“ fühlten?

Scheil: Es ist nicht unbedingt ein Problem, diesen Hinweis zu geben. Wie er dann jeweils aufgenommen wird, hängt von den Begleitumständen ab. In den deutschen Geschichtswissenschaften kommt allerdings leichter voran, wer sich nicht in Gegensatz zum staatlich vorgegebenen Geschichtsbild begibt, das ist sicher richtig. Insofern gibt es regelmäßig kaum einen Hinweis auf die fehlenden Befreiungsgefühle ohne die sofortige relativierende Ergänzung, es hätten sich die deutschen Betroffenen ihr Schicksal direkt oder indirekt selbst zuzuschreiben. Da sich private Auftraggeber wie große Firmen oder Ministerien derzeit gern eine umfangreiche Aufarbeitung ihrer Rolle während der NS-Zeit schreiben lassen, fallen dann auch diese Arbeiten häufig entsprechend aus. Es ist ein gutes Stück Weg zurückzulegen, bis des 8. Mai auch wieder öffentlich als des nationalen Desasters gedacht wird, das er zweifelsfrei ebenfalls gewesen ist.

Herr Dr. Scheil, vielen Dank für das Gespräch. 

 

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(Foto: Generaloberst Alfred Jodl unterzeichnet die Kapitulation der Wehrmacht.)

Ein Kommentar

  1. Florian Geyer sagt:

    Grüezi,
    es muß Jodl
    heißen und nicht
    “ Jodel“.

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