Die Entscheidung – vor 200 Jahren entscheidet sich in Waterloo das Schicksal Europas

31. Oktober 2015
Die Entscheidung – vor 200 Jahren entscheidet sich in Waterloo das Schicksal Europas
Geschichte
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Foto: Symbolbild

Artikel „Die Entscheidung“ aus der Juni-Ausgabe des Deutschen Nachrichtenmagazins ZUERST! 

Weichenstellung für Europa: Vor 200 Jahren ging Napoleons letzte Armee in der Schlacht bei Waterloo unter

Die im Frühjahr 1814 im Schlepptau der Siegermächte in Frankreich wieder auf den Thron gelangte Dynastie der Bourbonen hatte unter König Ludwig XVIII. bereits nach kurzer Zeit einen großen Teil des französischen Volkes – die unteren wie die oberen Schichten – gegen sich aufgebracht und dessen Neigung für den gestürzten Kaiser Napoleon I. wiederaufleben lassen. Der griff in einem verwegenen Unternehmen nochmals nach der Macht.

Die in Frankreich von den Bourbonen zu verantwortenden Zustände veranlaßten den Korsen ebenso dazu wie der Zwist der Siegermächte auf dem Wiener Kongreß und deren Pläne, ihn auf eine noch abgelegenere Insel als Elba zu deportieren. Unter allerstrengster Geheimhaltung traf Napoleon seine Vorbereitungen für die Rückkehr nach Frankreich und stach in Begleitung von 1.500 Anhängern und vier Geschützen am 26. Februar 1815 in See. Alles verlief für ihn zunächst günstig.

Am 1. März 1815 erreichte Napoleon bei Antibes die Küste. Sofort nach der Landung ließ er mehrere Proklamationen drucken und verbreiten. Das erste gegen ihn entsandte Bataillon lief zu ihm über, ebenso alle übrigen Truppen Ludwigs XVIII., die ihn bekämpfen sollten. Was Napoleon antraf, war eben noch sein altes Heer. Im Triumphzug trat er über Grenoble, dann über Lyon, wo ihn die Arbeiter begeistert empfingen, seinen Marsch durch Frankreich an. Überall öffneten ihm die Städte ohne Widerstand ihre Tore, und nachdem am 19. März Ludwig XVIII. und sein Hof nach Belgien geflohen waren, zog Napoleon am 20. März unter dem Jubel des Volkes in Paris ein.

Bei der Beamtenschaft stieß der Kaiser aber auf starke Reserviertheit. Und selbst die Vertreter verschiedenster Richtungen der Volksmeinung waren nicht mehr so einfach zur Ruhe zu bringen wie zu der Zeit seiner Allmacht. Verärgert meinte Napoleon, Ludwig XVIII. habe ihm „seine“ Franzosen „verdorben“. Widerwillig machte der Imperator liberale Konzessionen, die in der „Zusatzakte zu den Konstitutionen des Empire“ konkrete Formen annahmen und die ihn jetzt, da er die Handlungsfreiheit eines Diktators gebraucht hätte, massiv einengen sollten. Zudem hatten Napoleons Arbeitstempo und Entschlußkraft nachgelassen. Sein Innenminister Carnot fand, „die kühne Rückkehr von Elba scheint den Quell seiner Energie erschöpft zu haben; er schwankt, er zaudert; statt zu handeln, redet er“.

Dabei hätte Napoleon dringend sein gewohnt zupackendes Wesen benötigt, denn der Wiener Kongreß erklärte ihn feierlich für geächtet und außerhalb des Gesetzes stehend – bei gleichzeitigem Abschluß der nun siebten Koalition gegen Frankreich. Napoleons Friedensbereitschaft war vergeblich gewesen, es würde unweigerlich wieder Krieg geben. Angesichts der Kräfteverhältnisse konnten ihn nur schnelle Anfangserfolge vielleicht noch retten. So zog er mit einer Armee von bloß 125.000 Mann, zumeist bewährten Veteranen, am 7. Juni gegen seine gefährlichsten Feinde, Engländer und Preußen, die sich gerade in Belgien sammelten, ins Feld.

Napoleons Vormarsch lief derart rasch ab, daß die Armeen Blüchers und Wellingtons, der dem Tempo des Korsen nicht folgen konnte, sich nicht rechtzeitig zu vereinigen vermochten. Der Engländer, der den Franzosen in Spanien viele Niederlagen beigebracht hatte, war in falscher Auslegung der Situation mit seinen Truppen nach Westen marschiert. Erst in Brüssel war ihm sein Irrtum klargeworden. Auch Napoleon täuschte sich – und zwar über die Position seiner Gegner. Am 16. Juni griff er mit einem überraschenden Vorstoß an und brachte der preußischen Armee unter Blücher – sie war zu diesem Zeitpunkt 84.000 Mann stark – bei Ligny eine Niederlage bei. Blücher selber fiel bei einem Sturz vom Pferd beinahe den Franzosen in die Hände. Seinen Sieg konnte Napoleon jedoch durch das Versagen seines Marschalls Ney nicht ausnutzen. Ney hätte an demselben 16. Juni die englischen Truppen unter Wellington bei Quatrebras überrennen können, griff sie aber viel zu spät an. Dadurch erreichte er dort nichts und nahm dem Sieg Napoleons bei Ligny die Wirkung.

In dem falschen Glauben, die Preußen würden sich an den Rhein zurückziehen, schickte der Kaiser den erst vor kurzem zum Marschall beförderten Grouchy mit 33.000 Soldaten und 100 Kanonen aus, um sie zu verfolgen. Ihm hatte Napoleon ganz eindeutig aufgetragen,“in beständiger Verbindung mit der Hauptarmee zu bleiben und sich jeden Augenblick mit ihr vereinigen zu können“. Grouchys Truppen sollten dem Franzosenkaiser während der Schlacht von Waterloo bitter fehlen. Denn anders als von Napoleon erwartet, leitete Gneisenau den Rückzug der preußischen Armee nicht auf der alten Operationslinie zum Rhein hin, sondern nach Wavre, also nach Nordwesten. Mit diesem Entschluß von welthistorischer Dimension schuf Gneisenau die Basis für die folgende Entscheidung. Denn einzig dieses Manöver und Napoleons Fehlkalkulation ermöglichten den Preußen ein Zusammenwirken mit den Engländern und am Ende den Sieg.

Lazare Carnot, 1793 einer der Urheber der allgemeinen Wehrpflicht in Frankreich und auch „Organisator des Sieges“ genannt, bezeichnete später den Feldzug in Belgien – er dauerte gerade eine Woche lang – als „eine Serie von Fehlern, die Napoleons Genies unwürdig waren“. Diese Fehler hatten alle ihre Ursache in dem Gemüt eines Feldherrn, der keinen Glauben mehr besaß. Die Zersetzung seines Selbstbewußtseins kam aus tieferen Schichten seiner Persönlichkeit. Das Abenteuer seiner Rückkehr nach Frankreich, das so verheißungsvoll angefangen hatte, hatte ihn schließlich doch in eine Art von Unterordnung – nämlich die konstitutionelle Monarchie – geführt. Er hatte erkennen müssen, daß seine Energien nicht genügten, um die in Frankreich zirkulierenden Ideen zu beherrschen, und daß er einen seiner Person unwürdigen Part spielen mußte. Diese Kränkung war viel tiefer, als er sich eingestand. Sein Charakter gestattete es ihm nicht, in der konstitutionellen Monarchie, auf die er sich eingelassen hatte, etwas anderes zu erblicken als eine Schmach. Napoleons früher blitzschnell zupackendes Genie war jetzt, als es für ihn um alles ging, von Müdigkeit und Selbstzweifel befallen.

15 Kilometer südöstlich von Brüssel, in dem von einigen Höhenzügen durchschnittenen Gelände von Waterloo, warf sich Napoleon mit etwas weniger als 70.000 Soldaten auf Wellingtons Armee. Diese bestand aus Engländern, Deutschen und Niederländern und war etwas mehr als 70.000 Mann stark. Wellington hatte bei Blücher dessen Hilfe angefordert und von ihm die Zusage erhalten, daß er am 18. Juni eintreffen werde. Die Truppen des Engländers standen vor dem Wald von Soignies auf der Hochebene von Mont-Saint-Jean. Sie wehrten die dicht aufeinanderfolgenden, wütenden Angriffe der napoleonischen Truppen für acht lange Stunden unter immer höher werdenden Verlusten ab. Napoleon, der Schöpfer der neuzeitlichen Vernichtungsstrategie und des Masseneinsatzes, versuchte alles, um die Front des Feindes an den verschiedensten Stellen zu durchbrechen. Doch der Herzog von Wellington warf immer wieder seine Reserven in die von Napoleon geschlagenen Breschen seiner Schlachtlinie. Trotzdem wurde es am späten Nachmittag langsam ernst: Ohne eine Unterstützung durch Blücher und seine Preußen würde Wellington die Schlacht unweigerlich verlieren. Deshalb tätigte der Herzog den weltberühmten Ausspruch, der meistens so wiedergegeben wird: „Ich wollte, es wäre Nacht oder die Preußen kämen.“

Trotz hoher eigener Verluste konnten die Franzosen am frühen Abend Wellingtons Armee als sturmreif betrachten. Dieser hätte die Schlacht auf jeden Fall verloren, wären nicht ausgerechnet jetzt die Preußen in der rechten Flanke der Franzosen aufgetaucht. Nun rächte es sich, daß Napoleon wegen des aufgeweichten Bodens erst gegen 11.30 Uhr die Schlacht begonnen hatte. So schickte er einen Teil seiner Garde zu spät in den Kampf, um den englischen Truppen den Todesstoß zu versetzen. Denn in exakt diesem Augenblick griffen die von Blücher immer wieder aufgepeitschten Preußen in das blutige Ringen ein. Leichenblaß, doch ohne sich etwas anmerken zu lassen, ließ Napoleon die Angriffe seiner Truppen trotzdem unvermindert fortsetzen. Mit Gewalt wollte er das Schicksal doch noch wenden.

Aber das alles half den Franzosen nichts mehr. Begierig, sich für die Niederlage von Ligny zu rächen, bogen die Preußen den rechten französischen Flügel bis zur Mitte zurück. Hierauf geriet die gesamte napoleonische Armee immer stärker ins Wanken, und ihr Rückzug artete in wilde Flucht aus. In diese wurde auch Marschall Ney, der an diesem Tag Fehler über Fehler beging und vergebens den Tod suchte, hineingerissen. Ney wußte, daß es mit ihm vorbei war. Von Beginn der Schlacht an hatte er das Unmögliche versucht. Und jetzt mußte er in der Schlacht fallen, wenn er nicht nachher von den Bourbonen hingerichtet werden wollte. Einzig die Garde bewahrte in der allgemeinen Auflösung noch halbwegs Haltung. Als von ihr schließlich nur noch die Reste eines Bataillons übrig waren, wurden diese von den Engländern aufgefordert, sich zu ergeben. Aber der französische General Cambronne gab nur dies zur Antwort: „Merde! La garde meurt et ne se rend pas!“ („Scheiße! Die Garde stirbt und ergibt sich nicht!“) Daraufhin schossen die Engländer das so heldenhafte Fähnlein der allerletzten Aufrechten zusammen, und damit war die Schlacht von Waterloo beendet, die letzte Armee Napoleons vernichtet. Der Korse hatte das große Spiel um die Macht endgültig verloren.

Wellington und Blücher, die sich bei Belle-Alliance, Napoleons Ausgangsstellung, persönlich trafen, hatten letztlich den neben Leipzig 1813 entscheidenden Sieg in 23 Jahren Krieg errungen. Die Franzosen ließen auf dem Schlachtfeld 33.000 Mann, die Verbündeten 22.000 Soldaten. Während der englische Feldherr seinen Erfolg nicht dazu nutzte, dem geschlagenen Gegner nachzusetzen, nahm Gneisenau schon bald rücksichtslos die Verfolgung auf. Gemäß seiner Order, den letzten Hauch von Roß und Mann daranzusetzen, jagten die auch im Sommer 1815 noch von Rachegelüsten erfüllten preußischen Truppen die Trümmer des napoleonischen Heeres ohne Erbarmen vor sich her. An ihrer Spitze ritt der General Gneisenau und dachte an die schreckliche Nacht nach der Katastrophe von Jena und Auerstedt zurück, in der die ruhmreiche preußische Armee von den damals siegreichen Franzosen zu Tode gejagt worden war. Jetzt war dafür endgültig Rache genommen worden. Und fast wäre Napoleon selbst den Preußen in die Hände gefallen. Am Ende erbeuteten diese aber bloß seinen Wagen mit allen Papieren und Wertsachen, mit seinem Hut, Degen und seinen Orden. Zwar verfügte die preußische Armee zu einer überholenden operativen Verfolgung – anders als Napoleons Armee 1806 – noch nicht über die dafür erforderliche bewegliche Organisation. Trotzdem hat Gneisenaus Streben nach Vernichtung des besiegten Feindes ganz im Sinn von Napoleons Strategie einen vollständigen Sieg bewirkt. Und all das geschah nur zwei Tage nach der von Preußen verlorenen Schlacht von Ligny!

Unmittelbar nach der Katastrophe wollte Napoleon es den Franzosen und vermutlich auch sich selber nicht eingestehen, daß er am Ende war. Am 21. Juni traf er in Paris ein und unternahm den Versuch, Frankreichs letzte Kräfte zum Widerstand zusammenzuraffen. Doch die Ermächtigung zur Diktatur, die er hierfür brauchte und die er von dem aus Abgeordneten- und Pairskammer bestehenden Parlament verlangte, wurde ihm nicht erteilt. Die Feindseligkeit der Abgeordnetenkammer, die vollkommen unter dem Einfluß des Napoleon feindlichen Lafayette stand, und der Abfall, der um ihn herum stattfand, machten dem Imperator grausam klar, daß es endgültig aus war. Sollte er daran noch irgendeinen Zweifel gehabt haben, so brachte ihm die Forderung Lafayettes nach Abdankung bittere Gewißheit. Der Marquis, Held des US-amerikanischen Unabhängigkeitskrieges, hatte die Abgeordnetenkammer dazu bewegt, sich als in Permanenz tagend zu erklären. In einem Zusatz hatte sie jeden zum Hochverräter erklärt, der den Versuch unternähme, sie aufzulösen.

Napoleon, einst so mächtig, war jetzt nicht viel mehr als ein gescheiterter Abenteurer. Denn die eigentliche Basis seiner Macht, die Armee, hatte er ja bei Waterloo verloren. Die beiden Kammern des Parlaments geboten über die Nationalgarden. Auch befanden sich die Truppen der Verbündeten im Anmarsch. Trotzdem hätte Napoleon den Kampf noch fortführen können, hätte sich hierzu aber auf die Volksmassen stützen müssen. Vor dem Élysée-Palast strömten Arbeiter aus den Pariser Vororten zusammen, um Napoleons Abdankung zu verhindern. In ihm erblickten sie den einzigen Überrest der Revolution, und sie waren bereit, ihn zu unterstützen und zu verteidigen. Diese Franzosen waren gewillt, mit Napoleon als Anführer einen Befreiungskrieg gegen die ausländischen Eindringlinge zu beginnen, die Frankreich die so verhaßte Herrschaft der Bourbonen erneut aufzwingen wollten. Aber der Korse ergriff nicht die Gelegenheit, die sich ihm unverhofft darbot. Er wollte kein Kaiser der Jakobiner und auch keiner des revolutionären Volkskrieges sein. Damit beraubte er sich allerdings jeder Chance, den Kampf fortzusetzen.

Napoleon hatte den Kampf in seinem Inneren aufgegeben. Zwar war sein Wille noch lebendig, aber schon gebrochen. Am 22. Juni 1815 unterschrieb er seine erneute Abdankung und verzichtete auf den Thron zugunsten seines Sohnes, des Königs von Rom. Noch einmal bot er von Malmaison aus seine Dienste an: Als einfacher General wolle er Paris retten und die Feinde schlagen, solange sie noch getrennt seien. Doch Joseph Fouché, bis vor wenigen Tagen noch sein verräterischer Polizeiminister und nun zusammen mit Lazare Carnot an der Spitze der provisorischen Regierung, ließ sich darauf gar nicht erst ein. Er ließ Napoleon nur ausrichten, er möge sogleich abreisen, da man für seine Sicherheit nicht garantieren könne. Daraufhin trat der gestürzte Kaiser die Fahrt an die Küste an.

In Rochefort fand er sein Vorhaben, in die Vereinigten Staaten von Amerika zu entkommen, allerdings vereitelt, denn die Engländer blockierten die Häfen an Frankreichs Atlantikküste. Unter der Vorspiegelung, ihm in Großbritannien Asyl zu gewähren, lockten sie ihn am 15. Juli auf das Schiff „Bellerophon“, und Napoleon ging in diese Falle. Mit kleinem Gefolge wurde er von den Verbündeten auf die Atlantikinsel Sankt Helena verbannt, damit er nicht erneut den Frieden Europas stören könne. Dort verstarb er nach zuletzt überaus qualvoller Krankheit am 5. Mai 1821, nachdem er in den Jahren zuvor seine Memoiren diktiert und somit intensiv an seiner eigenen Legende gearbeitet hatte. Diese ist bis zum heutige Tag lebendig geblieben, ganz besonders natürlich in Frankreich. (Dr. Mario Kandil)

Ein Kommentar

  1. Deutscher Patriot sagt:

    Jaja, ich kann mich noch gut erinnern. Das war schon ´ne wilde Zeit. Und ich war immer und überall dabei. Hatte ´ne Dauerkarte….. jünstisch jeschosse. 😀

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