Hintergrund des Ukraine-Konflikts: Eurasien – ein Konkurrenz-Projekt zur EU gewinnt Konturen

21. März 2014

Foto: Wikimedia/Chipmunkdavis, CC BY-SA 3.0

Washington/Brüssel/Moskau. Warum sprechen wir ausgerechnet jetzt von Eurasien? Antwort: Weil das zur Dialektik der Geschichte gehört. Oder um es sehr frei nach Goethe zu sagen: Weil oft unerwartet Gutes dabei herauskommen kann, auch wenn Böses gewollt wird. Wir müssen weiter ausholen.

Wenn in diesen Tagen um die Zukunft und die strategische Ausrichtung der Ukraine gerungen wird, dann entspringt dies auch einem Machtkalkül westlicher Einflußzirkel, die Rußland schwächen und den transatlantischen Einfluß in Europa stärken wollen. Dabei geht es aber um mehr als um die konsequente Ostverschiebung der EU- und NATO-Ostgrenzen, wie sie seit dem Ende der Sowjetunion betrieben wird.

Amerikanisch-britische Strategen wie der britische Geograph und Geopolitiker Halford Mackinder (1861–1947) vertraten früh die gut zum Zeitalter des Imperialismus passende „Herzland“-Theorie. Sie besagt, daß derjenige die Welt beherrsche, der Eurasien beherrsche; um aber die Herrschaft über Eurasien auszuüben, sei es nötig, das „Herzland“ der riesigen eurasischen Landmasse zu kontrollieren. Das war schon zu Mackinders Zeit Rußland und ist es noch heute. Bedeutet in letzter Konsequenz: Herrsche über Rußland, und Du beherrschst die Welt.

Die strategischen Vordenker im Lager der seebeherrschenden Angelsachsen hatten seither einen Alptraum, der noch heute die Köpfe der maßgeblichen Spieler am globalen Schachbrett beherrscht: daß sich die beherrschenden Mächte Eurasiens zusammentun und das riesige Potential des eurasischen Großraums politisch bündeln könnten. Konkret geht es dabei seit fast eineinhalb Jahrhunderten um Deutschland und Rußland.

In Brüssel, das NATO- und EU-Zentrale gleichermaßen ist, weiß man davon offiziell natürlich nichts. Obenhin und ihrem Selbstverständnis nach ist die Europäische Union ein merkantiles Zweckbündnis. Strategisch ist sie die vorgeschobene ökonomische Phalanx der NATO, deren Präsenz diesseits des Atlantiks sie sicherstellen soll.

Seit dem Ende der Sowjetunion schieben sich NATO und EU Schritt für Schritt weiter nach Osten voran und zielen mit perfider Konsequenz auf die Umfassung und Einschnürung des russischen „Herzlandes“. Doch scheint es, daß gerade die kaum verhohlene Expansion des Westens ihre geopolitische Antithese auf den Plan gerufen hat: das Projekt „Eurasien“. Der russische Präsident Putin verfolgt es bereits seit seiner ersten Präsidentschaft, aber erst in den letzten Jahren zeigen sich die Konturen eines veritablen wirtschaftlich-politischen Gegengewichts gegen den Westen. Schon seit 2001 gibt es die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ), der derzeit China, Rußland, Usbekistan, Kasachstan, Kirgisistan und Tadschikistan angehören; Iran und Indien haben Beobachterstatus.

Das ungleich ambitioniertere Projekt ist die Eurasische Union, deren Erweiterung Moskau seit 2010 in Analogie zur EU zielstrebig vorantreibt: als binnenwirtschaftlicher Großraum, der zunächst Rußland, Weißrußland und Kasachstan umfaßte und 2015 darüber hinaus auch Armenien, Kirgisistan und – die Ukraine einschließen soll. Seit 2012 fungiert die Eurasische Union auch formell als vereinigte Binnenwirtschaftszone. Zum Gesamtpaket gehören aber auch gemeinsame Sicherheitsabkommen, die Formulierung gemeinsamer Wirtschaftsziele und die Schaffung einer gemeinsamen Infrastruktur.

Allen, die auf die Kontrolle und Fragmentierung des eurasischen „Herzlandes“ spekulieren, hat Putin mit der Eurasischen Union schon jetzt kräftig die Suppe versalzen. Und wenn die EU in absehbarer Zeit an ihren eigenen Widersprüchen und Konstruktionsfehlern scheitern sollte, könnte „Eurasien“ sogar für mittel- und westeuropäische Partner attraktiv werden. Der Alptraum des Halford Mackinder ist noch längst nicht ausgeträumt.

Dieser Artikel erschien zuerst in „Der Schlesier“.

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