Auf ganzer Linie gescheitert: Die ISAF-Mission in Afghanistan

18. Juli 2013

Soldaten der Bundeswehr, hier in Afghanistan (Foto: Wikimedia/isafmedia, CC BY 2.0)

Kabul. Fast schien es so, als sei Afghanistan „befriedet“ – zumindest in der deutschen Medienberichterstattung.

Monatelang gab es kaum mehr Berichte über sogenannte „Zwischenfälle“, statt dessen diskutierte man von Zeit zu Zeit den genauen Plan des deutschen Truppenabzugs vom Hindukusch.

Immerhin zeichneten Bundesregierung und Truppe in den vergangenen anderthalb Jahren das Bild einer sich stets verbessernden Sicherheitslage. Tatsächlich aber ist das Gegenteil der Fall: Das Gefährdungspotential hat sich 2012 extrem erhöht. Haben Bundesregierung und Einsatzführung bewußt Schönfärberei betrieben und Berichte manipuliert? Der stellvertretende Befehlshaber des Einsatzführungskommandos in Potsdam, Konteradmiral Rainer Brinkmann, mußte Ende Mai jedenfalls einräumen, daß die Bundeswehr ihre Statistik über sogenannte sicherheitsrelevante Zwischenfälle – also Angriffe und Anschläge – massiv „korrigieren“ müsse. Statt einer Entspannung der Lage habe es von 2011 auf 2012 einen Anstieg der Angriffe um etwa 25 Prozent gegeben. Und diese Entwicklung hält offenbar an, denn auch im ersten Quartal dieses Jahres gab es schon rund 250 „Zwischenfälle“ – von der Öffentlichkeit weitestgehend unbeachtet.

Am 4. Mai dieses Jahres kehrte der ferne Krieg in Afghanistan, an dem die Bundeswehr seit mehr als zwölf Jahren beteiligt ist, wieder in die deutschen Wohnzimmer zurück. Ein 32jähriger Soldat des Kommandos Spezialkräfte (KSK) bezahlte einen Kampfeinsatz im Norden Afghanistans mit seinem Leben, ein weiterer wurde schwer verwundet – möglicherweise sogar aufgrund von Verrat. In der Presseerklärung des KSK heißt es zu den Umständen lapidar: „Unser Kamerad, ein Angehöriger der Task Force 47, verlor sein Leben in einem Gefecht mit Aufständischen in Nord-Afghanistan während eines Einsatzes in Unterstützung unserer afghanischen Partnereinheit.“ Fast zwei Jahre lang gab es unter den deutschen Soldaten im Afghanistan-Einsatz keine Gefallenen mehr zu beklagen. Langsam aber sicher rückte der Kriegsschauplatz am Hindukusch immer mehr aus dem Scheinwerferlicht der Medien.

Die Informationslage war zunächst dünn. Beim Bundesverteidigungsministerium hielt man sich vorerst zurück. Die afghanischen Behörden zeigen sich auskunftsfreudiger: Der gemeinsame Einsatz deutscher und afghanischer Einheiten habe mit der groß angekündigten Sommeroffensive der Taliban zu tun. Afghanische Offizielle der Region Baghlan im Norden des Landes hätten die Deutschen um Unterstützung gebeten. Bewaffnete Verbände der Taliban seien dabei, Kontrollpunkte zu errichten, zudem terrorisierten sie die örtliche Bevölkerung.

Die Frühlingsoffensive der Taliban wurde lange als marginal heruntergespielt, doch bereits Ende April zeigte sich, daß die bewaffneten Kämpfer der Taliban durchaus ernst machen: Innerhalb von nur einer einzigen Woche wurden nach Angaben der NATO insgesamt 22 Soldaten bei Angriffen durch Bomben und bei Gefechten getötet – so viele wie schon lange nicht mehr. Die afghanischen Sicherheitskräfte hätten mit dem „Unternehmen Maiwand“ reagiert, um die Taliban wieder zurückzudrängen.

Dabei war am 4. Mai eine vom deutschen KSK ausgebildete Spezialeinheit der afghanischen Polizei in Schwierigkeiten geraten und rief die deutschen Elitesoldaten zur Hilfe. Das KSK folgte dem Ruf mit 17 Soldaten – so weit, so üblich. Dann allerdings löste sich die vielbeschworene Partnerschaft zwischen Bundeswehr und einheimischer Armee in Luft auf: Kaum war das KSK vor Ort, zogen sich die Afghanen – wild in die Luft schießend – unabgesprochen etwa 700 Meter zurück. Die Bundeswehr geriet derweil aus einem Waldstück heraus unter Feuer durch automatische Gewehre und Panzerfäuste. Die deutschen Kommandosoldaten forderten Luftunterstützung an, woraufhin zwei „Tiger“-Hubschrauber der Bundeswehr unterstützt durch weitere Hubschrauber der US-Luftwaffe mit Raketen gegen die Angreifer vorgingen. Weil das Feindfeuer auch dadurch nicht gänzlich zum Erliegen kam, belegte ein US-Erdkampfflugzeug A-10 „Thunderbolt II“ – von den Soldaten auch als „Warzenschwein“ bezeichnet – die Baumgruppe mit einem regelrechten Bombenteppich. Danach herrschte Ruhe. Während die afghanischen Verbündeten – zu deren Hilfe man eigentlich erst angerückt war – das ganze Spektakel weiterhin aus sicherer Entfernung beobachteten, rückte das KSK nun in den Wald vor. Ein überlebender Taliban-Kämpfer erschoß dabei aus dem Hinterhalt den deutschen Soldaten, ein zweiter KSK-Mann erhielt einen Kopfschuß und wurde schwer verwundet. Es entbrannte ein erneutes Gefecht, bei dem die afghanischen „Partner“ immer noch keine Unterstützung leisteten. Dabei galten die vom KSK ausgebildeten Spezialkräfte der afghanischen Polizei bisher noch als die Zuverlässigeren unter den Afghanen. „Wir mußten erneut lernen, daß wir uns nicht auf die Afghanen verlassen können“, beklagt im nachhinein ein deutscher Offizier. Besonders erschütternd: Die Taliban behaupten, sie hätten im Vorfeld „Berichte“ von dem nahenden Einsatz der Deutschen bekommen. Haben die afghanischen Polizisten das KSK bewußt in eine Falle gelockt? Der Verdacht des Verrats steht im Raum – auch wenn er von der Truppe bisher offiziell nicht ausgesprochen wurde. Das Vertrauen und Sicherheitsempfinden der Bundeswehrsoldaten im Einsatz dürfte aber nachhaltig belastet sein, der Druck auf die Soldaten wächst entsprechend.

Und noch am gleichen Tag, an dem der deutsche KSK-Soldat gefallen war, ging es prompt weiter: Nach Angaben des Bundesverteidigungsministeriums wurden am späten Abend zwei deutsche Hubschrauber vom Typ CH-53 auf der Flugstrecke zwischen der Ortschaft Khilagay und Kabul „mit Flugabwehr- und Handwaffen aufständischer Kräfte“ beschossen, das Feuer verfehlte die Helikopter allerdings. In dem afghanischen Armeelager von Khilagay ist eine kleine Einheit des KSK stationiert, welche dort die afghanische Polizei ausbildet.

Als nur wenige Tage nach diesen „Zwischenfällen“ Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) die deutschen Soldaten in Afghanistan besuchte, war die Stimmung dementsprechend schlecht. Vor den Soldaten sagte sie: „Da ist mir natürlich wieder auch bewußt geworden, daß Sie Ihren Dienst tun nicht einfach aus Pflichterfüllung, sondern auch unter großen, großen Risiken.“ Wofür die deutschen Soldaten diese „großen, großen Risiken“ eingehen, ließ die Kanzlerin offen. Sie sprach dafür viel über die hervorragende internationale Zusammenarbeit mit den anderen NATO-Truppen in Afghanistan. Und sie ließ auch keinen Zweifel daran, daß auch nach dem offiziellen Ende der Afghanistan-Operation im Jahr 2014 deutsche Soldaten im Land bleiben sollen, um den afghanischen Sicherheitskräften bei der Ausbildung zu helfen.

Der Truppenbesuch der Kanzlerin enthüllte aber vor allem eines: das offensichtlich tiefe Mißtrauen in die afghanischen Behörden und offiziellen Stellen. Selbst der afghanische Präsident Hamid Karsai sei vom Merkel-Besuch – wohlgemerkt in seinem eigenen Land – „überrascht“ worden. „Aus Sicherheitsgründen“, so die deutsche Bundesregierung, habe Berlin den Kanzlerinnen-Besuch „geheimgehalten“. Auf den Punkt gebracht: Berlin traut nicht einmal dem afghanischen Präsidenten und seinem direkten Umfeld.

Das gleiche gilt auch für die Zusammenarbeit zwischen Bundeswehr und der Afghanischen Nationalarmee (ANA). Denn was in den deutschen Medien bisher kaum Beachtung fand: Die ANA ist alles andere als eine ordentliche Streitkraft. Bereits im Jahr 2010 berichtete Frankreich über den katastrophalen Zustand der afghanischen Armee: Eine erschreckend hohe Anzahl der ANA-Rekruten konsumierten demnach regelmäßig Drogen. Alkoholismus und Brutalität gegen Zivilisten gehörten zur Tagesordnung bei der ANA. Viele der registrierten Mannschaften seien lediglich Phantomgebilde, die es den jeweiligen örtlichen Kommandeuren erlauben, den Sold in die eigene Tasche zu stecken. Korrupte Beamte seien keine Seltenheit, so der französische Bericht über die afghanischen Streitkräfte.

Dies alles macht die Kooperation zwischen Bundeswehr und ANA zu einem ständigen Sicherheitsrisiko für die deutschen Soldaten – der mögliche Verrat, dem der KSK-Soldat nun zum Opfer fiel, ist da nur die Spitze des Eisbergs. Auch die afghanischen Zivilangestellten, die in den deutschen Stützpunkten arbeiten, seien alles andere als verläßlich. Der Verdacht, daß diese oftmals Informationen an die Taliban liefern, wird seitens der Bundeswehr nur hinter vorgehaltener Hand geäußert. Mehr als 1.300 afghanische Hilfskräfte sollen bei der Bundeswehr arbeiten: Fahrer, Reinigungskräfte und Übersetzer. Wie viele von ihnen noch ein „Nebeneinkommen“ als Informanten der Taliban beziehen, ist freilich nicht bekannt.

All diese Vorgänge zeigen am Ende nur eines: Offensichtlich haben die Eroberung Afghanistans und die spätere militärische Besetzung des Landes durch NATO-Truppen an den Zuständen am Hindukusch nichts ändern können. Die NATO-Operation muß als gescheitert angesehen werden. Beim Einsatz in Afghanistan sind bisher 53 deutsche Soldaten zu Tode gekommen, 35 davon durch „Fremdeinwirkung“, so die Bundeswehr. „Fremdeinwirkung“ bedeutet: Gefallen im Krieg. Wofür? – diese Frage bleibt auch nach zwölf Jahren unbeantwortet.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der „Deutschen Militärzeitschrift“ (DMZ).

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